Zum Inhalt springen

Gewaltprävention Die Radikalisierung in der Schweiz wird immer vielfältiger

Vor wenigen Jahren stand in erster Linie der islamistische Terror im Augenmerk der Prävention. Das hat sich geändert.

Für die Gewaltprävention sind Bund und Kantone gemeinsam zuständig. Alle Fäden laufen bei Martin von Muralt zusammen, der die Arbeit im sogenannten Sicherheitsverbund koordiniert. Und von Muralt sagt, seit dem ersten «Aktionsplan» von 2017 habe sich die Ausgangslage verändert: «Im neuen Aktionsplan gibt es eine Verschiebung. Wir richten den Hauptfokus nicht mehr nur auf Dschihadismus, sondern auch auf andere Arten der Radikalisierung.»

Denn die Menschen in der Schweiz würden sich heute auf vielfältigere Weise radikalisieren. «Den Fokus stützen wir nun auch auf Links- und Rechtsextremismus ab und ebenso auf die ‹monothematischen Extremismen›. Hier denkt man grundsätzlich an Verschwörungstheoretiker und Staatsverweigerer.»

Die Klientel wird vielfältiger

Für die zuständigen Stellen bei Kantonen und Städten heisst das: diversere Klientel. Aber muss die Gewaltprävention eine radikale Corona-Skeptikerin tatsächlich genau gleich behandeln wie einen Dschihad-Reisenden?

Serena Gut von der Fachstelle Extremismus und Gewaltprävention der Stadt Winterthur sagt: «Das gehört in unser Fachgebiet. Während der Corona-Pandemie sind Verschwörungsmythen verstärkt aufgekommen.» Gleichzeitig stellt sie klar, dass Massnahmenkritiker nicht gleich Extremisten seien. «Verschwörungsmythen können aber eine Demokratie gefährden, indem sie eine grosse Dynamik hineinbringen.»

Kapo Bern demonstriert Verhaftung bei Übung
Legende: Die Gefahrenherde im Gewaltextremismus sind vielfältiger geworden. Dennoch steht in den kommenden Jahren weniger Geld für die Prävention zur Verfügung. Wie passt das zusammen? Keystone/Michael Buholzer

Und noch andere Formen von Radikalismus werden vermehrt zum Thema: Anfang Jahr etwa erklärte die Bundespolizei Fedpol öffentlich, sie beobachte «radikale Frauenhasser». Mit ein Grund für diese «Vielfalt» sind viele, rasch aufeinander folgende Krisen: Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg, Klimawandel. Die Verantwortlichen sprechen von einer Multikrise. Die Gelegenheiten, sich aus unterschiedlichen Gründen zu radikalisieren, nähmen ganz einfach zu.

Die rote Linie zum Extremismus wird überschritten, wenn man zu Gewalt aufruft und gegen Gesetze verstösst.
Autor: Serena Gut Fachstelle Extremismus und Gewaltprävention der Stadt Winterthur

Der Auslöser einer Radikalisierung sei für die Prävention allerdings sekundär, sagt Gut. Behandelt würden in der Fachstelle alle Anfragen gleich – und die Prävention sei auch immer im selben Moment zu Ende. «Die rote Linie zum Extremismus wird überschritten, wenn man zu Gewalt aufruft und gegen Gesetze verstösst.» Stellt die Fachstelle fest, dass ihre Klientel diese Schwelle überschreitet, übergibt sie die Fälle der Polizei.

Bundesrat will Budget für Prävention kürzen

Die Radikalisierung wird also vielfältiger – und trotzdem will der Bundesrat weniger Geld in die Prävention stecken. Im Vergleich zu den vergangenen Jahren kürzt der Bundesrat die Beiträge für den zweiten Aktionsplan gegen Radikalisierung und Extremismus, der bis 2028 läuft. Statt einer Million soll es nur noch eine Dreiviertelmillion geben pro Jahr. Das hat er im April entschieden. Zum Beispiel für den Aufbau von Fachstellen wie jener in Winterthur oder für Informationsplattformen zum Thema.

Der Sicherheitsdelegierte des Bundes, Martin von Muralt, sagt: «Wir hatten vor, proaktiver zu sein und in Zukunft mehr finanzieren zu können. Wir werden aber sehr wahrscheinlich ähnlich unterwegs sein wie in den letzten fünf Jahren.» Denn das Budget des Bundes für die Präventionsprojekte ist in den letzten Jahren nicht immer ausgeschöpft worden. Das letzte Wort zum Präventionsbudget hat im Herbst das Parlament.

Echo der Zeit, 06.06.2023, 18 Uhr

Meistgelesene Artikel