Zwei Kilometer lang und stellenweise bis zu 200 Meter breit liegt der Schuttkegel nach dem Abbruch des Birchgletschers vom Mittwoch im Tal. Grosse Teile des Dorfes Blatten sind zerstört. Die Behörden sprechen vom schlimmstmöglichen Szenario. Wie das Ereignis aus Sicht der Geologie zu bewerten ist, erklärt Flavio Anselmetti, Professor für Quartärgeologie und Paläoklimatologie am Geologischen Institut der Universität Bern.
SRF News: Ist der gestrige Abbruch auch aus Sicht der Geologie das schlimmstmögliche Szenario?
Flavio Anselmetti: Das kann man durchaus so sehen, selbst wenn der Berg nicht in einem einzigen Mal herunterkommt. Jetzt hat sich der Gletscher, auf dem sich die Bergstürze angesammelt haben, in Bewegung gesetzt. Und von dem her kann man wirklich von einem schlimmstmöglichen Szenario ausgehen, indem dieses Eis auf einmal herunterkommen ist.
Zunächst hat es so ausgesehen, als würde der Berg in vielen kleinen Abbrüchen kommen. Wie ist es jetzt zu diesem Grossereignis gekommen?
Ein Gletscher ist ein System, das generell immer in Bewegung ist. Einfach, sehr langsam. Diese Bewegung entsteht durch die Masse des Eises, die auf einer geneigten Fläche liegt. Es wirken Kräfte, die den Gletscher ins Tal ziehen. Wenn nun zusätzlich diese Millionen Kubikmeter Gestein auf dem Eis liegen, überschreitet man einen Schwellenwert, an dem der Gletscher ins schnellere Gleiten gerät. Und wenn man diesen Schwellenwert übertreten hat, dann fährt der Gletscher in einer dynamischen Reaktion los, und alles kommt auf einmal runter.
Den unten im Tal gelegenen Gemeinden könnten sehr starke Flutwellen und Murgänge drohen.
Ausgelöst hat das eben dieser Bergsturz am Nesthorn. Kann man sagen, dass da jetzt alles heruntergekommen ist?
Das müssen die Leute vor Ort klären. Wir hatten jetzt mehrere Tage diese kleinen Bergstürze, die auf das Eis fielen. Es gab auch Volumenberechnungen, also wie viele Millionen Kubikmeter schon heruntergekommen sind. Jetzt ist sicher ein grosser Teil schon unten. Ob das alles war, das kann ich aber nicht beurteilen.
Ein Problem ist jetzt die Lonza, die sich staut wegen dieser Geröllmassen. Was droht da noch?
Wenn wir von schlimmstmöglichen Ereignissen reden, gibt es auch hier ein «Worst Case Szenario». Die jetzige Kettenreaktion – Bergsturz, Gletscher, der abrutscht – könnte sich fortsetzen. Die Gesteinsmassen stauen das Tal wie ein sehr hoher Damm, das heisst, die Lonza staut sich hintendran. Das Schlimmste wäre jetzt, wenn sich das Wasser bis zur Krone des Bergsturz-Dammes aufstaut. Dann würde sich der Fluss wieder in dieses Eis-Stein-Gemisch einschneiden, was den Damm destabilisieren würde. Teile dieses Dammes könnten mitgerissen werden, der Damm könnte kollabieren. Dann könnten von einem solchen See-Ausbruch den unten im Tal gelegenen Gemeinden sehr starke Flutwellen und Murgänge drohen.
Das Gespräch führte Vera Deragisch.