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Als die Schweizer Armee an der Neutralität zu zweifeln begann
Aus Echo der Zeit vom 02.01.2023. Bild: Keystone
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Historische Dokumente Als die Schweizer Armee an der Neutralität zu zweifeln begann

1992 kam das Militärdepartement zum Schluss, die Neutralität sei zum Sicherheitsrisiko geworden. Das zeigen Dokumente aus dem Bundesarchiv, die die Forschungsstelle Dodis veröffentlicht hat.

Zeitenwende. Dieser Begriff passt auch für die Phase Ende der Achtziger- und Anfang der 1990er-Jahre. Einfach unter anderen Vorzeichen als heute.

1989 ging die Mauer in Berlin auf, der eiserne Vorhang fiel. Die Sowjetunion löste sich 1991 auf und die Bedrohung aus dem Osten war weg. Auch alte Glaubenssätze in der Schweiz kamen ins Wanken, wie zum Beispiel, dass die Schweizer Armee autonom das Land verteidigen könne.

So schrieb am 23. Juni der stellvertretende Generalsekretär des damaligen Eidgenössische Militärdepartements EMD (heute Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport, VBS):

Dokument mit einem Quote.
Legende: Zitat aus: Autonome Verteidigungsfähigkeit und Neutralität. Diskussionspapier für die Arbeitsgruppe Krafft, Juni 1992. Dodis

30 Jahre lang lag das Dokument verschlossen im Bundesarchiv. Jetzt wird es öffentlich zugänglich über die Datenbank von Dodis (Diplomatische Dokumente der Schweiz). Es zeigt: Die EMD-Spitze zweifelte 1992 an der autonomen Landesverteidigung – und an der Neutralität. Das Diskussionspapier war an das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) gerichtet, das eine Arbeitsgruppe zur Zukunft der Neutralität leitete.

Grenzen der Autonomie

Der Mitarbeiter des damaligen Verteidigungsministers Kaspar Villiger zählte im Diskussionspapier verschiedene Beispiele auf, wo die Autonomie an ihre Grenzen kam. So sei die Schweizer Armee im Konfliktfall auf Nachschub aus dem Ausland angewiesen.

Auch beim Unterhalt der Rüstungsgüter und bei der Nachrichtenbeschaffung sei man vom Ausland abhängig. Problematisch sei zudem der Autonomieanspruch bei der Luftverteidigung. Der Schutz vor «neuen Gefahren» wie Langstreckenraketen könne nur im internationalen Verbund aufgebaut werden, war das EMD überzeugt.

Diese Schwächen könnten dazu führen, dass die Schweiz erpressbar werde, weil es ohne Verbündete dastehe, warnte das EMD. Die Schuldige war gefunden: die Neutralität.

Dokument mit Quote.
Legende: Zitat aus: Autonome Verteidigungsfähigkeit und Neutralität. Diskussionspapier für die Arbeitsgruppe Krafft, Juni 1992. Dodis

Die Neutralität als militärisches Risiko. Damit habe die Neutralität die jahrzehntelang als magisch wahrgenommene Wirkung eines Schutzschildes verloren, sagt der Historiker und Leiter der Forschungsstelle Dodis, Sacha Zala. «Das ist eine sehr bemerkenswerte, nüchterne und höchstwahrscheinlich aus militärischer Sicht wohl auch korrekte Einschätzung der Situation.»

Was ist Dodis?

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Legende: Dodis-Direktor Sacha Zala. KEYSTONE/Valentin Flauraud

Dodis ist nach eigenen Angaben das unabhängige Kompetenzzentrum für die Geschichte der schweizerischen Aussenpolitik und der internationalen Beziehungen der Schweiz. Bekannt ist Dodis für ihre Webseite und Datenbank. Jährlich digitalisiert die Forschungsstelle hunderte von Dokumenten. Die Datenbank ist öffentlich zugänglich.

Diese Dokumente stammen primär aus dem Bundesarchiv. Nach 30 Jahren läuft jeweils die Schutzfrist ab. So werden ab dem 1. Januar 2023 Dokumente aus dem Jahr 1992 frei zugänglich für die Öffentlichkeit und Forschung.  

Dodis ist ein Institut der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW). Im letzten Jahr feierte es das fünfzigjährige Jubiläum. Geleitet wird Dodis von Historiker Sacha Zala. Finanziert wird die Forschungsstelle zum grössten Teil durch den Bund.  

Anfang der 1990er-Jahre veränderte sich in kurzer Zeit die Gefahrenkarte rund um die Schweiz zum Positiven. Dodis-Direktor Zala sagt, der Fall der Berliner Mauer habe eine allgemeine Aufbruchstimmung in der Aussenpolitik ausgelöst. So habe sich bereits 1990 eine kleine Gruppe an Vordenkern in der Sektion für Völkerrecht im EDA daran gemacht, über die Konsequenzen für die Neutralität nachzudenken.

Internationale Sanktionen gegen Völkerrechtsbrecher

Im selben Jahr kam es auch zu einem Richtungswechsel in der Schweizer Neutralitätspolitik. So beschloss der Bundesrat, ohne zu zaudern, die Wirtschaftssanktionen des UNO-Sicherheitsrates gegen den Irak zu übernehmen. Eine 1991 vom Bundesrat eingesetzte Studiengruppe schlug vor, die Schweiz solle ihre Neutralität auf den Kerngehalt reduzieren.

Und genau hier meldete das Militärdepartement 1992 Bedenken an. Das EMD warnte, auch eine auf den Kern reduzierte Neutralität werde für die Schweiz zum Sicherheitsrisiko. Europa wachse zusammen und eine Mehrzahl von Staaten sei zum Schluss gekommen, gegenseitige Sicherheitsgarantien böten mehr Sicherheit als eine autonome Verteidigungsfähigkeit.

Dokument mit Quote.
Legende: Zitat aus: Autonome Verteidigungsfähigkeit und Neutralität. Diskussionspapier für die Arbeitsgruppe Krafft, Juni 1992. Dodis

Damit zerpflückte das Militärdepartement das Argument, man könne sich im Kriegsfall ja immer noch einem Bündnis wie der Nato anschliessen.

EMD schlug 1992 «differentielle Neutralität» vor, EDA lehnte ab

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Als Lösung schlug das Militärdepartement nicht die Aufgabe der Neutralität vor, sondern wollte eine «differentielle Neutralität» einführen. So solle die Schweiz bei aussereuropäischen Konflikten neutral bleiben, und auch bei Konflikten zwischen zwei europäischen Staaten. Aber wenn der gesamte Kontinent und damit auch die Schweiz bedroht sei, dann falle die Neutralität weg.

Um sich auf einen solchen Bedrohungsfall vorzubereiten, wäre das Militärdepartement gerne Kooperationen oder gar gegenseitige Sicherheitsgarantien eingegangen – mit der Nato und mit der damaligen Westeuropäischen Union, die später in die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU (GSVP) aufging.

So hat das EMD im Diskussionspapier vorgeschlagen, bei der Beschaffung und beim Unterhalt von Rüstungsgütern international zusammenarbeiten zu wollen. Ebenso in der Ausbildung, Logistik, bei der Nachrichtenbeschaffung und -auswertung. Aber auch die Eingliederung in eine integrierte internationale Kommandostruktur oder ein gemeinsamer Einsatz mit Bündnispartnern hätte so ermöglicht werden sollen.

Das EDA zeigte sich skeptisch. Es störte sich am Begriff der «differentiellen Neutralität». Es sei ein belasteter Begriff aus den 1920er-Jahren, als die Schweiz mit der «differentielle Neutralität» Mitglied des Völkerbundes wurde. Auch sei es schwierig, die verschiedenen Konfliktszenarien genau abzugrenzen. Weiter sei Sicherheit unteilbar. So kenne weder die Nato noch die Westeuropäische Union eine «halbe Mitgliedschaft».

Die Aussichten, eine Sonderlösung für die Schweiz mit diesen Bündnissen aushandeln zu können, würden nicht als gross bewertet, schrieb der damalige stellvertretende Chef der Sektion Völkerrecht im EDA, Thomas Borer, an das EMD (später wurde er schweizweit bekannt als Leiter der Task Force Schweiz – Zweiter Weltkrieg und als Botschafter in Berlin).

Das EDA wollte vorerst bei einer auf den Kern reduzierten Neutralität bleiben und hoffte, dass die Neutralität automatisch an Bedeutung verlieren würde: «Je mehr dieses europäische Sicherheitssystem funktioniert und je wirkungsvoller die militärische Zusammenarbeit ist, desto weniger wird es unsere bewaffnete Neutralität brauchen,» schrieb das EDA an das EMD.

Wie reagierte das federführende Aussendepartement auf die Analyse aus dem EMD? Es zerpflückte die Argumente in Bausch und Bogen, und schrieb frech ans EMD zurück:

Dokument mit Quote.
Legende: Zitat aus: Stellungnahme zum Diskussionspapier des EMD betreffend Autonome Verteidigungsfähigkeit und Neutralität. Notiz der Direktion für Völkerrecht des EDA, August 1992 Dodis

Dieser Aufforderung ist das EMD oder später das VBS nie nachgekommen. Aber die Einschätzung von 1992, dass die autonome Landesverteidigung eine Illusion ist, bleibt gültig bis heute.

EU-Beitrittsgesuch – Bundesrat war gespalten

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Die Bundesräte Jean-Pascal Delamuraz, René Felber und Arnold Koller
Legende: Historische Niederlage: Die Bundesräte Jean-Pascal Delamuraz, René Felber und Arnold Koller äussern sich zum EWR-Nein. KEYSTONE/Rolf Schertenleib

1992 war ein aussenpolitisches Schicksalsjahr: Am 6. Dezember lehnte eine knappe Mehrheit des Stimmvolkes den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum EWR ab, nach einem heftig geführten und emotionalen Abstimmungskampf. Vorgängig hatte der Bundesrat entscheiden müssen, ob er ein Beitrittsgesuch zur Europäischen Gemeinschaft, der heutigen EU, einreichen wolle oder nicht.

Der Bundesrat war gespalten – es brauchte mehrere Runden, bis er sich durchringen konnte. Das zeigen Bundesratsprotokolle und Dokumente, die ab heute öffentlich zugänglich sind.

Schweizer Blauhelm-Bataillon

Auch zu weiteren aussenpolitischen Themen aus dem Jahr 1992 finden sich Dokumente. So beschloss im Mai das Schweizer Stimmvolk den Beitritt zu Währungsfonds IWF und Weltbank. Die Schweiz gründete darauf die Stimmrechtsgruppe «Helvetistan», zusammen mit zentralasiatischen Ländern. Das gab der Schweiz Gewicht und Einfluss in den beiden Finanzinstitutionen.

Obwohl die Schweiz 1992 noch nicht UNO-Mitglied war, präsentierte der Bundesrat einen Plan für ein Schweizer Blauhelm-Bataillon. Dies alles ist nachzulesen in den Originalquellen auf der Webseite von Dodis, diplomatische Dokumente der Schweiz.

SRF 4 News, 01.01.2023, 9 Uhr

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