Worum geht es? Das Kreisgericht Rorschach hat einen Mann aus Belarus vom Vorwurf freigesprochen, am Verschwindenlassen von Oppositionellen Ende der 1990er-Jahre beteiligt gewesen zu sein. Der Mann hatte gegenüber Medien und Asylbehörden angegeben, als Mitglied einer Sondereinheit bei der Verhaftung von Oppositionellen geholfen zu haben und Zeuge ihrer Ermordung geworden zu sein. Das Gericht hatte Zweifel an seiner Schuld.
Es gab einen Freispruch. War alles für nichts? Natürlich sind die Opferangehörigen enttäuscht, ebenso die Nichtregierungsorganisationen, die den Prozess durch eine Anzeige ins Rollen gebracht haben. Aber das Gerichtsverfahren war für sie nicht vergebens, sie sind im Gegenteil froh, dass es stattgefunden hat. Denn durch die Gerichtsverhandlung wurde der Blick der Weltöffentlichkeit auf die Verbrechen des Regimes in Belarus gerichtet.
Inwiefern profitieren die Opferangehörigen? Aus deren Sicht ist der Prozess auch deshalb nicht vergebens, weil der Beschuldigte detailliert schilderte, was im Jahr 1999 angeblich passiert ist. Für die Opferangehörigen klingen seine Schilderungen glaubwürdig, sie haben durch den Prozess also etwas mehr Klarheit bekommen.
Wie geht es weiter? Es ist es sehr wahrscheinlich, dass das Urteil an die nächste Instanz weitergezogen wird. Gut möglich, dass sich am Ende sogar das Bundesgericht äussern wird. Das ist gut so, denn der Tatbestand des Verschwindenlassens von Personen kommt in der Schweiz das erste Mal überhaupt zur Anwendung.
Welche Bedeutung hat der Prozess? Eigentlich ist dieser Fall juristisch nicht wahnsinnig komplex. Das Regionalgericht musste in erster Linie beurteilen, wie glaubwürdig der Angeklagte ist. Am Prozess war auch Thema, ob das Delikt verjährt ist, beziehungsweise, ob der neue Artikel im Strafgesetzbuch von 2017 überhaupt zur Anwendung kommen kann oder nicht – weil die Tat vorher begangen wurde. Dabei stellte sich die Frage, wann das Dauerdelikt des Verschwindenlassens beendet ist: Dann, wenn etwas über den Verbleib der verschwundenen Personen publik wird, oder dann, wenn der Täter redet? Das höchste Gericht könnte diese Fragen in einem Leitentscheid beantworten.
Was bedeutet der Freispruch für die Menschen in Belarus? Auch wenn es vor der ersten Instanz zu einem Freispruch gekommen ist, könnte der Prozess in der Schweiz eine Signalwirkung haben: Mitarbeitende des Regimes – auch Niedrige in der Hierarchie – wissen nun, dass ihnen im Ausland der Prozess gemacht werden kann. Dass man für die amtierende Regierung gehandelt hat, ist im Ausland kein Schutz. Das könnte den einen oder anderen vielleicht doch zum Nachdenken bringen – und der Bevölkerung Hoffnung geben, dass die Verbrechen des Regimes nicht ewig straflos bleiben.