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Bündner Spital wehrt sich gegen Schliessung der Neonatologie
Aus 10 vor 10 vom 22.11.2023.
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Hochspezialisierte Medizin Sorge um Bündner Babys entfacht Diskussion über Spitzenmedizin

Der Kinderintensivstation im Kantonsspital Chur droht die Schliessung. Jetzt regt sich politischer Widerstand.

Drei Monate früher als geplant kam Rafael auf die Welt. Er musste wochenlang auf der Kinderintensivstation in Chur bleiben. Rafaels Mutter Elisa R. erinnert sich an die intensive Zeit. Als die Lage stabiler scheint, fährt sie heim nach Pontresina und wird überrumpelt: «Ich bekam einen dringenden Anruf, dass Rafael umgehend operiert werden müsse.» Innert einer Stunde rast sie nach Chur. Wäre das Spital noch weiter weg gewesen, hätte sie es nicht rechtzeitig zur Operation geschafft.

Ein Frühgeborenes auf der Neonatologie in Chur. Es kann nicht gut atmen, es geht ihm aber gut.
Legende: Ein Frühgeborenes auf der Neonatologie im Kantonsspital Graubünden. Es kann nicht gut atmen, es geht ihm aber gut. SRF

Doch die Zukunft der Kinderintensivstation in Chur ist ungewiss. Denn Experten des Fachgremiums für hochspezialisierte Medizin (HSM) bemängeln zu geringe Fallzahlen in der Intensivpflege von Neugeborenen. Schliesst das Spital die Neonatologie, so lohne es sich nicht mehr, die Kinderintensivstation zu betreiben, fürchtet das Spital.

Das ist Neonatologie

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Neonatologie ist der medizinische Fachbereich, der sich mit der Betreuung und Behandlung von Neugeborenen, insbesondere Frühgeborenen oder schwer kranken Babys, beschäftigt.

Kampf um die Neonatologie in Chur

Gegen die drohende Schliessung wehrt sich das Kantonsspital Graubünden nun vehement. Innert einer Woche hat es 25'000 Unterschriften für eine Petition gesammelt. Die Neonatologie sei unverzichtbar: «Hier in der Region mit den vielen Tälern und Pässen sind wir das einzige Spital, das diese Leistungen anbietet. Die Entfernungen für Betroffene würden zu gross, es käme zur Patientengefährdung», betont Hugo Keune, Geschäftsführer des Kantonsspitals Chur.

Zentralisierung in der hochspezialisierten Medizin

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Seltene, komplexe und teure Behandlungen gehören zur hochspezialisierten Medizin (HSM). Zum Beispiel Herztransplantationen oder die Behandlung von Hirnschäden. Um die Qualität und Effizienz solcher Medizin zu sichern und zu erhöhen und letztlich auch im Gesundheitssystem zu sparen, haben sich alle Kantone 2008 darauf geeinigt, solche Behandlungen auf wenige statt auf viele Spitäler zu konzentrieren.

Ein Fachorgan aus 15 Ärzten und Wissenschaftlern prüft, was zur hochspezialisierten Medizin gehört und welche Spitäler die Leistungsaufträge erhalten sollen. Anschliessend entscheidet das Beschlussorgan, das sind Regierungsvertreter aus zehn grossen bzw. bevölkerungsstarken Kantonen, welches Spital was anbieten darf.

Laut dem Spital seien Kantone aus der ganzen Schweiz auf die Neonatologie in Chur angewiesen. Im Jahr 2022 wurden beispielsweise 22 Patienten aus anderen Kantonen aufgenommen, während 17 aufgrund von Platzmangel abgelehnt wurden.

Kathrin Huber ist Generalsekretärin der Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK), die die HSM-Vereinbarungen unter den Kantonen koordiniert. Sie sagt, es sei das Ziel der Interkantonalen Vereinbarung über die hochspezialisierte Medizin (IVHSM), zu zentralisieren: «Wenn man eine Konzentration von Eingriffen erreichen will, dann bedeutet das immer, dass es weniger Leistungserbringer gibt und dass dann für gewisse Bevölkerungsgruppen ein weiterer Weg entsteht. Dafür ist die Qualität allenfalls höher.»

Debatte auf nationaler Ebene

Der Bündner Ständerat Martin Schmid (FDP) findet den Entscheid unverständlich. Doch seine Kritik geht weiter. Er hat eine Motion eingereicht. Ihn stört grundsätzlich, dass immer mehr Bereiche zur HSM gezählt werden: «Ich selbst war einmal Gesundheitsdirektor und habe die HSM unterstützt, wenn es um seltene Operationen wie Herztransplantationen ging. Heute werden jedoch Operationen als selten eingestuft, bei denen es Hunderte von Fällen gibt, das ist falsch. Die HSM nimmt einen falschen Kurs.» Im Falle der Neonatologie seien es beispielsweise schweizweit über 3600 Fälle pro Jahr.

Ein Blick auf die Zahlen zeigt: Seit 2008 hat sich die Anzahl hochspezialisierter Eingriffe und Behandlungen vervielfacht – von acht auf 43 im Jahr 2020.

Periphere und kleine Kantone unter Druck

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Insbesondere in kleinen Kantonen, wie zum Beispiel Thurgau, regt sich Widerstand. «Derzeit wird über bestimmte Eingriffe in der Gynäkologie und Urologie diskutiert – einige davon sind wirklich sehr häufig. Das geht nicht, wir müssen jetzt einen Strich ziehen und nicht noch mehr zentralisieren», kritisiert Gesundheitsdirektor Urs Martin.

Seine Kritik richtet sich aber auch an die HSM-Gremien: «Die Entscheidungsgremien sind einseitig zusammengesetzt. Die Hälfte der Sitze wird durch die Universitätsspitäler besetzt. Das wird dann dahingehend missbraucht, dass man den Regionalspitälern Leistungsaufträge entzieht und sie bei den grossen Universitätsspitälern monopolisiert, die in der Regel stark defizitär sind.»

IVHSM erreicht Ziele

Trotz der Kritik betont die GDK, dass die HSM ihre Ziele erreiche. «Das ist auch die Einschätzung des Bundesrats, die er erst letztes Jahr nochmals wiederholt hat. Es ist aber so, dass wir hier nicht nachlassen dürfen, das war auch die Aussage des Bundesrates.»

Das Unbehagen gegen diese Zentralisierungen ist in Graubünden so gross, dass der Kanton sogar einen Austritt aus der HSM-Vereinbarung in Betracht zieht. Vorerst hofft er aber, die Entscheidung noch beeinflussen zu können. Der definitive Entscheid über die Neonatologie in Chur fällt im Frühling.

10vor10, 22.11.2023, 21:50 Uhr;kobt

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