Der Zimmerschlüssel sei wie ein Wunder, sagt Fikria. Die 60-Jährige hat im Hotel «Bel'Espérance» Unterschlupf gefunden. Dieser Schlüssel bedeute nicht nur ein eigenes, abschliessbares Zimmer. Er bedeute auch Hoffnung, wieder auf die Beine zu kommen.
Fikria stand letzten Sommer plötzlich auf der Strasse. Während der Pandemie hatte sie ihren Hauswirtschafts-Job und ihr Zuhause verloren. Nie hätte sie gedacht, dass es in ihrem Leben einmal so weit kommen würde. Seit über 30 Jahren lebt sie in Genf. Früher habe sie Menschen bemitleidet, die den ganzen Tag auf einer Parkbank verbrachten. Auf einmal habe es sie selbst getroffen.
Gute Menschen wie «Monsieur Alain»
Fikria war verzweifelt. In einer Notschlafstelle wurde sie von einer Sozialarbeiterin aufgegriffen und ins Hotel gebracht. Das habe ihr das Leben gerettet. «Ich hatte Selbstmordgedanken, doch ich bin in richtigen Moment auf gute Menschen gestossen, wie auf ‹Monsieur Alain›.»
Das Dreisternhotel von Alain Meuwly lief bis vor einem Jahr sehr gut. Doch trotz idealer Lage und für Genfer Verhältnisse moderater Zimmerpreise häuften sich im letzten Frühling die Annullationen. Er musste handeln.
Eine Win-Win-Situation
Die Idee, Hilfsbedürftige aufzunehmen, sei ihm rasch gekommen, sagte Meuwly: «Zuerst habe ich Jugendliche aufgenommen, dann Frauen. Ein Hilfswerk finanziert das. Es ist eine Win-Win-Situation – für die Obdachlosen und den Hotelbetrieb.»
Die Hotelangestellten konnten weiterarbeiten, wenn auch etwas reduziert. Sie putzen, waschen und verteilen Mahlzeiten. Die Zimmer hat Meuwly nur leicht umgestellt und gewisse Extras wie die Kaffeemaschine entfernt.
Geteilte Reaktionen auf gemischte Belegung
Eine gewisse Zeit beherbergte er im letzten Sommer gleichzeitig Hotelgäste und Obdachlose auf verschiedenen Stöcken: «Die meisten gratulierten zur Idee, andere wollten das Hotel nicht mit Obdachlosen teilen.»
Für den Hoteldirektor war es eine neue Herausforderung. Er habe zwar die renommierte Hotelfachschule in Lausanne absolviert, doch Kurse in Sozialarbeit habe es dort nicht gegeben.
«Bel'Espérance» als Vorbild
Doch Meuwly bekommt auch Unterstützung. Es sind weitere Hotels dazugekommen, die insgesamt 140 Obdachlose beherbergen. Mittlerweile beteiligt sich auch das Sozialamt des Kantons Genf am Projekt. Nicht nur finanziell mit 1.4 Millionen Franken, sondern auch mit Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern, die rund um die Uhr für die Hilfsbedürftigen vor Ort sind.
In einem Zimmer des Hotels «Bel' Espérance» stehen deshalb keine Betten mehr, sondern zwei Pulte. Leiterin Aude Bumbacher erklärt: «Unser Ziel war klar, dass wir nicht nur ein Dach über dem Kopf und ein Bett bieten, sondern eine ganzheitliche soziale Betreuung. Wir wollen die Betroffenen bestmöglich unterstützen, wo sie Hilfe brauchen.»
Eine Hoffnung auf Zeit?
Auch Fikria bekommt Unterstützung. Sie kann nun regelmässig zu einer Psychologin gehen und eine Ausbildung im Informatikbereich machen. Vorläufig kann sie bis im Mai im Hotel bleiben.
Ob das Projekt verlängert wird, ist noch offen. Doch sie vertraue darauf, dass sie nicht fallengelassen werde, sagt Fikria. Denn sie wolle kein Sozialfall bleiben, sondern wieder arbeiten. Und wenn sie doch einmal zweifle, dann berühre sie ihren Zimmerschlüssel, den sie immer in der Tasche habe, sagt sie unter Tränen. Und schon sei sie wieder motiviert, weiterzukämpfen.