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Integrative Schule unter Druck Kantone eröffnen zahlreiche neue Sonderschulklassen

Immer mehr Kinder werden in Sonderschulen versetzt – auch wenn sie diesen Status gar nicht bräuchten. Das hat Gründe. Und Folgen.

Im bernischen Burgdorf beginnt der Tag mit einem Lied. Die Stimmung in der Sonderschulklasse ist ruhig, die Kinder unterscheiden sich stark. Einige haben Trisomie 21, andere ADHS oder Autismus – der Alltag in der Schulklasse ist anspruchsvoll. Lehrerin Franziska Oppliger stemmt ihn mit Herzblut, wie sie sagt. Doch hinter dem ruhigen Moment steckt eine Problematik, die weit über Burgdorf hinausweist.

Franziska Oplliger spielt Akkordeon vor Kindern im Klassenzimmer.
Legende: Franziska Oppliger musiziert mit ihrer Sonderschulklasse. SRF

Im Kanton Bern wurden im vergangenen Schuljahr 50 neue Sonderschulklassen eröffnet. Ein Ausnahmefall? Keineswegs. Auch andere Kantone melden einen starken Anstieg. Der Grund: Die integrative Schule stösst an ihre Grenzen.

Immer mehr Kinder werden abgeklärt – oft nicht wegen klarer Defizite, sondern um zusätzliche Ressourcen zu erhalten. Das stellt den Grundgedanken «Eine Schule für alle» infrage.

Für Myriam Ziegler vom Zürcher Volksschulamt hat das Phänomen einen einfachen Grund: Kinder mit einem Sonderschulstatus erhielten mehr schulische Unterstützung.

Myriam Ziegler spricht gestikulierend in einem Raum mit Sonnenblumen im Hintergrund.
Legende: Myriam Ziegler vom Zürcher Volksschulamt erklärt das Phänomen so: «Wenn die Mittel fehlen, erhalten Kinder einen Sonderschulstatus, um mehr Unterstützung zu bekommen – auch wenn sie diesen formal nicht benötigen.» SRF

Der Status öffnet Türen zu zusätzlichem Personal und angepassten Lehrplänen – aber er trägt auch ein Stigma. «Ein Kind, das eigentlich nicht sonderbeschult werden müsste, wird unnötig gelabelt», warnt Ziegler. Das könne sich auf Zeugnisse und spätere Laufbahnen auswirken.

Der Bildungsforscher Andrea Lanfranchi sieht die Gesellschaft an einem Scheideweg: «Entscheiden wir uns für Separation oder Integration? Wenn wir letzteres wollen, muss die integrative Schule dringend gestärkt werden», fordert er.

Andrea Lanfranchi im Freien mit SRF-Mikrofon.
Legende: Der emeritierte Bildungsforscher Andrea Lanfranchi fordert eine Stärkung der integrativen Schule. SRF

Die Zahlen sprechen eine klare Sprache. Ein Kind in einer separierten Sonderschule kostet den Kanton Bern rund 86'000 Franken pro Jahr. In einer integrierten Sonderschule sind es noch 45'000 Franken – verglichen mit 18'000 Franken für ein Kind in der Regelklasse. Die Unterschiede sind nicht nur bildungspolitisch, sondern auch finanziell brisant.

Integrative Schule

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In der Integrativen Schule besuchen Kinder mit besonderem Förderbedarf den Regelunterricht in ihrem Wohnort. Sie erhalten unterstützende Massnahmen wie heilpädagogische Begleitung, Logopädie oder Psychomotorik im Schulalltag. Ziel sind Chancengerechtigkeit, soziale Teilhabe und individuelle Förderung ohne Segregation. Das Prinzip folgt der UNO-Behindertenrechtskonvention, die eine inklusive, wohnortnahe Beschulung verlangt.

Quelle: Stiftung Schweizer Zentrum für Heil- und Sonderpädagogik (SZH)

In Burgdorf profitieren die Kinder von kleinen Klassen und individuellem Zugang. Doch längst nicht alle Sonderschülerinnen und Sonderschüler brauchen diese Form der Beschulung.

Die steigende Zahl der Zuweisungen in separierte Sonderschulen spricht eine klare Sprache. Doch wenn Integration gelingen soll, braucht es mehr als gute Absichten – es braucht Ressourcen, Fachpersonal und politischen Willen.

10vor10, 10.07.2025, 21:50 Uhr ; 

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