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Interview mit Alain Berset «Wenn es die Situation erfordern würde, hätten wir mehr gemacht»

8585 Corona-Neuinfektionen meldete das Bundesamt für Gesundheit (BAG) heute. Das sind so viele wie noch nie in diesem Jahr. Doch der Bundesrat will die Massnahmen vorerst nicht schweizweit verschärfen. Gesundheitsminister Alain Berset erklärt, warum die Schweiz stattdessen auf Appelle an die Kantone und die Bevölkerung setzt.

Alain Berset

Bundespräsident

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Alain Berset ist seit 2012 Bundesrat und Vorsteher des Eidgenössischen Departements des Innern (EDI). Für das Jahr 2023 ist Berset zudem Bundespräsident. Er wurde 1972 geboren, studierte an der Universität Neuenburg Politik- und Wirtschaftswissenschaften, die er 2005 mit dem Doktorat abschloss. Der Sozialdemokrat war für den Kanton Freiburg im Ständerat und übte dort 2008 und 2009 das Amt des Ständeratspräsidenten aus. Neben seinem politischen Mandat präsidierte Berset den Westschweizer Mieterinnen- und Mieterverband und die Schweizerische Vereinigung zur Förderung der AOC/IGP.

Ende 2023 wird Alain Berset nicht mehr als Bundesrat kandidieren.

SRF News: Der Bundesrat macht den Eindruck, als würde er zwischen Hoffen und Bangen verharren. Handeln tut er nicht.

Alain Berset: Wir müssen im richtigen Moment reagieren, wenn es notwendig ist. Wir waren bis jetzt eher vorsichtig. Im September haben wir den Einsatz des Covid-Zertifikats ausgeweitet, im Oktober auf Lockerungen verzichtet. Jetzt verschärfen wir nichts, weil es zwischen den Kantonen riesige Unterschiede gibt. Aber wir arbeiten mit den Kantonen.

Taskforce-Chefin Tanja Stadler hat gestern gesagt, es könne durchaus sein, dass in drei bis fünf Wochen die Situation in der Schweiz so ist wie heute in Österreich. Müsste man diesen Vorsprung nicht nutzen?

Es ist heute eine kritische Situation. Das wissen wir alle und man sieht, was passieren könnte, wenn man nach Österreich schaut. Aber es ist auch ein Vorteil, diese Information zu haben. Wir können alle, die ganze Bevölkerung – in der Familie, in der Firma, im Verein – etwas tun, um diese Entwicklung zu bremsen.

Das Wichtigste heute ist wahrscheinlich, dass die ganze Bevölkerung mitmacht.

Was ist Ihr Appell an die Eigenverantwortung?

Abstand, Hygiene der Hände, Maske, in den Innenräumen überall lüften, wo möglich. Das sind schon viele gute Sachen. Die Kantone können situativ dort mehr tun, wo es wirklich Probleme gibt.

Aber Hand aufs Herz, es wäre auch unangenehm, eine halbe Woche vor einer wichtigen Abstimmung nationale Massnahmen zu ergreifen.

Es wäre unangenehm. Wenn aber die Situation es erfordern würde, würden wir es sofort tun. Wir haben seit Monaten gesagt, dass die Situation in den Spitälern und auf den Intensivstationen der Massstab ist. Heute sind 20 Prozent der Intensivstation-Betten durch Covid-Patienten belegt. Das ist nicht der Moment, wo man mehr machen muss. Aber die Kantone können weitere Schritte tun.

Den Vorwurf, dass Sie extra noch warten bis am Sonntag, lassen Sie nicht gelten?

Nein, das lasse ich nicht gelten. Wir hätten schon mehr gemacht, wenn es die Situation erfordern würde. Es kann aber später kommen, wir wissen es nicht – heute geht es. Ich möchte auch daran erinnern, dass wir die Arbeit mit den Kantonen immer gut gemacht und koordiniert hatten. Das Wichtigste heute ist wahrscheinlich, dass die ganze Bevölkerung mitmacht. Es war auch eine gute Entwicklung im letzten Jahr, weil alle mitgemacht haben. Der Schweizer Kurs war viel liberaler als in anderen Ländern.

Im Prinzip also einfach Hoffnung?

Ja, wir hoffen, dass es funktioniert. Wir schauen, wie es geht. Aber wenn die Situation sich sehr negativ entwickeln sollte, müssen wir mit den Kantonen schauen, was geht.

Sie haben es schon wieder gesagt: Die Kantone sind in der Pflicht. Vor einem Jahr stiegen die Fallzahlen ähnlich stark an, man sagte ebenfalls, die Kantone seien in der Pflicht – funktioniert hat es nicht. Warum soll das jetzt klappen?

Ich glaube, es ist eine völlig andere Situation. Heute ist zwar vergleichbar, dass die Situation heikel ist. Aber heute haben wir mit der Impfung schon viele grosse Schritte gemacht. Zwar nicht genug, aber vieles ist schon gemacht worden. Wir haben im letzten Jahr viel gelernt, was funktioniert und was nicht. Heute sind auch Massnahmen vorzusehen, die vielleicht vor einem Jahr nicht genug gewesen sind.

Die Impfung ist freiwillig und wird es auch bleiben.

Aber es klingt wieder so, als ob die heisse Kartoffel zwischen Bund und Kanton hin und her geschoben wird. Ich zitiere aus einer Erklärung der kantonalen Gesundheitsdirektoren diese schreiben, man müsse jetzt nationale Massnahmen diskutieren. Sie sind nicht zufrieden mit dem Bundesrat.

Es gibt schon ziemlich viele nationale Massnahmen mit dem Covid-Zertifikat, das an vielen Orten gilt. Und es ist ausgedehnt worden im September. Es gilt auch die Maskentragpflicht im öffentlichen Verkehr.

Wie steht es um Schliessungen und andere Massnahmen?

Das wäre theoretisch möglich. Aber wir haben schon Fortschritte gemacht mit der Impfung und der Immunität. Wir werden so oder so alle mit dem Virus in Kontakt kommen.

Es gibt nur zwei Wege. Es gibt den kontrollierten Weg mit der Impfung, und wir haben immer mehr Erkenntnisse zur Impfung. Wir sehen, wie gut es funktioniert. Es ist keine Vollkasko, aber es hilft uns aus der Pandemie. Oder unkontrolliert durch eine Ansteckung, und das muss man auch akzeptieren. Die Impfung ist freiwillig und wird es auch bleiben.

Das Gespräch führte Gion-Duri Vincenz.

Tagesschau, 24.11.2021, 18:00 Uhr ; 

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