Vor einem Jahr forderte die Katastrophe im Maggiatal acht Todesopfer und verursachte Millionenschäden. Gemeinderätin Valentina Anzini aus Lavizzara – eine der betroffenen Gemeinden – spricht über den Wiederaufbau und die Zukunft des Tals.
SRF News: Welche Erinnerung haben Sie an die Katastrophennacht vom 29. auf den 30. Juni 2024?
Valentina Anzini: Ich wollte eigentlich an das regionale Fussballturnier, das an diesem Abend bei uns stattfand. Vorher habe ich aber das Fussball-EM-Spiel Schweiz gegen Italien im Restaurant meines Dorfs geschaut. Während des Spiels begann es stark zu regnen – aber zunächst habe ich mir nichts dabei gedacht. An Regen sind wir uns hier ein Stück weit gewöhnt.
Wann wurde Ihnen klar, dass es ernst ist?
Am nächsten Morgen wurde ich früh von Helikopterlärm geweckt – es war Sonntag. Da war mir sofort klar, dass etwas nicht stimmt. Ich wollte den Gemeindepräsidenten anrufen, aber wir hatten kein Netz. Also bin ich raus aus dem Haus und habe Nachbarn getroffen.
Es war wie in einem apokalyptischen Film: Überall lagen Steine, Geröll, Wasser, zerstörte Autos, Kleidung.
Sie sprachen von einer grossen Katastrophe – die Vislettobrücke sei zerstört, und auch das Centro Sportivo. Ich bin dann in die betroffenen Gebiete gegangen. Je weiter ich kam, desto grösser wurden die Schäden. Es war wie in einem apokalyptischen Film: Überall lagen Steine, Geröll, Wasser, zerstörte Autos, Kleidung. Da wurde mir das ganze Ausmass klar.
Wie hat sich das Sicherheitsgefühl der Menschen im Maggiatal verändert?
Man spürt, dass das Unwetter tiefe Wunden hinterlassen hat. Wer eine solche Katastrophe erlebt, merkt schnell: Vieles ist nicht mehr wie vorher. Natürlich bemüht man sich, zur Normalität zurückzukehren – aber bei manchen sitzt der Schmerz tief. Einige sprechen gar nicht darüber, weil es ihnen zu weh tut. Andere sind dagegen sehr motiviert und sagen: Jetzt erst recht!
Gibt es auch Leute, die nicht mehr hier leben möchten, die wegziehen?
Nein, ich habe niemanden gehört, der das gesagt hat oder tatsächlich weggezogen wäre. Aber es gibt eine gewisse Ungeduld. Viele wissen zwar, dass wir als Gemeinde hart arbeiten, aber sie sehen noch wenig sichtbaren Fortschritt. Aber genau diese Ungeduld zeigt auch: Die Leute wollen wieder leben, wieder Alltag haben. Und das sehe ich durchaus als positives Zeichen.
Die Schäden werden auf 70 bis 100 Millionen Franken geschätzt. Der Bund hat zusätzliche Unterstützung in Aussicht gestellt, auch der Kanton hat Mittel zugesprochen. Reicht das Geld nun aus?
Das können wir im Moment noch nicht sagen. Viele Projekte befinden sich noch in der Planungsphase – wir wissen also noch gar nicht genau, wie viel sie kosten werden.
Wie steht es um eine aktualisierte Gefahrenkarte?
Sie ist entscheidend, fehlt aber noch. Ohne sie wissen wir nicht, welche Gebiete als rote Zonen eingestuft werden, die nicht mehr bewohnt werden dürfen. Das blockiert vieles: Wiederaufbau, Investitionen, Planung. Sobald wir wissen, wo die Risiken liegen, können wir Projekte starten – zum Beispiel, wie man den Flusslauf besser sichern oder gefährdete Häuser schützen kann. Auch der Wiederaufbau des Centro Sportivo hängt davon ab.
Sie leben im Maggiatal – Sommergewitter sind hier nichts Ungewöhnliches. Wie hat sich Ihr Verhältnis zu Gewittern seit der Katastrophe verändert?
Der Puls geht schneller. Auch vorletzte Nacht hat es wieder stark gewittert – und ich habe schlecht geschlafen. Früher hätte ich durchgeschlafen, jetzt wache ich sofort auf.
Also: Man schläft nicht mehr wie vor einem Jahr?
Nein, definitiv nicht. Ich wache bei jedem Gewitter auf.
Das Gespräch führte Iwan Santoro.