SRF: Wie war Fidel Castro im persönlichen Umgang?
Jean Ziegler: Im persönlichen Kontakt war er ein echter Kubaner. Ein unglaublich herzlicher und temperamentvoller Mensch. Kaum sass man ihm in der Villa Flores gegenüber, fragte er nach dem Befinden der Familie. Das waren immer die ersten Fragen, die er stellte. Er war sehr neugierig auf die europäische Linke. Neugierig darauf, was mit der sozialistischen Internationalen passiert. Da hat er sich immer über die fehlende Solidarität geärgert. Europa war für ihn sehr wichtig als dritter Weg zwischen den Blöcken. Diesen dritten Weg hat er sein Leben lang gesucht.
Castro hat auch die Schweiz sehr geliebt. Das hab ich gespürt. Er war zweimal in der Schweiz, hat zum Beispiel das Greyerzerland besucht, die Käsefabrikation. Er war sehr beeindruckt von der direkten Demokratie. Er hat sie nicht genau verstanden und hat mir immer wieder Fragen dazu gestellt. Ich habe ihm dann Dokumente darüber mitgebracht.
Es ist eine grosse Tragödie, dass er gestorben ist, obschon er ein schönes Alter erreicht hat. Wir haben eine Autoritätsfigur, ein Schiedsrichter innerparteilicher Konflikte, eine Referenz verloren. Er war zudem für andere Staatspräsidenten in Südamerika ein unabdingbarer Ratgeber in politischen Entscheidungen.
Fidel Castro setzte aber auch Dissidenten in Haft und Dissidenten starben. Er führte das Land in die Isolation und Armut. Sie haben ihn immer in Schutz genommen. Warum?
Sie haben Unrecht mit der Isolation und der Armut. Im Gegenteil. Kuba ist die solidarischste Nation überhaupt. Ich habe das als UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung erlebt: Kubanische Ärzte sind überall bei den Ärmsten in der Welt – in Bangladesch, in der Mongolei, im Niger, in Guatemala. Kuba ist aus der Armut herausgekommen, der Rassismus ist verschwunden. Kuba ist allerdings keine Demokratie, es gibt eine Einheitspartei. Aber es gibt Prioritäten im Leben. Bertolt Brecht hat gesagt: Ein Wahlzettel macht den Hungrigen nicht satt.
Castro ist der letzte grosse Revolutionär. Richtig?
Das soll man nicht sagen – nein nein. Die Völker machen die Revolution. Aber klar, einen Fidel Castro gibt es nicht alle fünf Jahre. Aber er ist nicht der letzte grosse Revolutionär. Was die Völker der Welt wollen, ist der Aufstand des Gewissens. Alle wollen wie Menschen leben können.
Das Gespräch führte Isabelle Jacobi.