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Jugendpsychiatrien überlastet Depressive Jugendliche kommen bei Bauernfamilien unter

Wegen der Pandemie sind die Jugendpsychiatrien überbelegt. Betreuungsplätze bei Gastfamilien sind gefragter denn je.

Kontaktbeschränkungen, Isolation, das soziale Leben findet meist im Internet statt. Nach zwei Jahren Pandemie zeigt sich deutlich, dass viele jungen Menschen unter der Situation leiden. Jugendpsychiatrien sind überbelegt. Es werden nur noch absolute Notfälle aufgenommen – zum Beispiel Jugendliche, welche versucht haben, sich das Leben zu nehmen. Alle anderen kommen auf eine Warteliste: Jugendliche mit Depressionen oder Jugendliche, die sich im Internet verlieren und die Schule verweigern.

Grosser Ansturm auf Betreuungsplätze bei Bauern

Erhalten Jugendliche in Krisensituationen nicht sofort einen geeigneten Platz in einer Psychiatrie, finden sie vorübergehend Unterschlupf bei einer Gastfamilie auf dem Land. Die Stiftung Terra Vecchia vermittelt im Auftrag des Kantons Bern rund 30 solche Betreuungsplätze bei Familien auf dem Land.

So einen Ansturm habe ich noch nie erlebt.
Autor: Jacqueline Bachmann Stiftung Terra Vecchia

Seit der Pandemie werden sie mit Anfragen überrennt. Vor Weihnachten erhielten sie täglich bis zu vier Anrufe – vor der Pandemie waren es drei pro Woche. «Wir haben ganz viele verzweifelte Beiständinnen oder Mitarbeiter von Sozialdiensten aus der ganzen Schweiz, welche einfach keine Plätze mehr finden. Das habe ich so noch nie erlebt», sagt Jacqueline Bachmann, bei Terra Vecchia für die Gastfamilien zuständig.

Betreuungsplatz am «A... der Welt»

Einer dieser Betreuungsplätze ist bei Familie Zaugg im tiefen Emmental. Seit bald 28 Jahren nehmen Hans und Roswitha Zaugg Jugendliche bei sich auf. Dabei treffen immer wieder Welten aufeinander. «Plötzlich sind die Jugendlichen ab vom Schuss auf einem Bauernhof, wo es schmutzig ist und stickt. Da haben sie dann schon oft das Gefühl. ‹Jetzt bin ich am A... der Welt›», so Roswitha Zaugg.

Hand und Roswitha Zaugg auf einem Bänkli mit ihrem Hund.
Legende: Zauggs betreuen seit bald 28 Jahren Jugendliche und Kinder in Krisensituationen. Sonja Mühlemann/SRF

Zauggs haben vier eigene Kinder grossgezogen und bisher um die 60 Kinder und Jugendliche betreut. Vor der Pandemie häufig Kinder, welche vernachlässigt wurden. Jetzt vorwiegend Jugendliche mit psychischen Problemen. Und das in einem Ausmass, das sie bisher nicht kannten, sagt Roswitha Zaugg: «Das gab es vorher nicht, dass Jugendliche zu uns kamen und bereits Medikament nehmen mussten.»

Fenster von innen. Drausen Nebel.
Legende: In der Abgeschiedenheit des Emmentals kommen die Jugendlichen zur Ruhe. Sonja Mühlemann/SRF

Auch sie als Gastgeber seien gefordert, sagt Hans Zaugg: «Wir sind immer wieder nervös, obwohl wir schon so lange dabei sind.» Man nehme die Kinder und Jugendlichen wie sie sind und fange ganz vorne an. Vorne anfangen heisst in diesem Fall: Am Tag wach sein, in der Nacht schlafen, gemeinsam mit der Familie essen, regelmässig duschen.

98 Franken pro Tag

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Für die Familie Zaugg ist die Betreuung von Pflegekindern und Jugendlichen auch ein wichtiger Nebenerwerb. Für die Betreuung, Kost und Logis erhalten sie pro Tag 98 Franken. Macht rund 3000 Franken im Monat.

Hans und Roswitha Zaugg sind jedoch keine Pädagogen. Die fachliche Unterstützung kommt von der Stiftung Terra Vecchia. Jede Woche schaut jemand vorbei und man bespricht, wie es geht. Für Notfälle gibt es ein Pikett-Telefon.

Überlastete Jugendpsychiatrien

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UPD
Legende: Die Universitären Psychiatrischen Dienste Bern UPD Keystone

Der Chef der Jugendpsychiatrie des Kantons Bern spricht von einem Versorgungsnotstand, Überlastung und Triage.

Die Notfallstation sei so ausgelastet, dass seit Monaten nur absolute Notfälle aufgenommen werden. Jene zum Beispiel, die versucht haben, ihr Leben zu nehmen, sagt der Direktor der UPD Bern, Michael Kaess: «Im Januar haben wir einen Peak an Notfällen, den wir kaum mehr bewältigen können. Wir haben eine Auslastung des Notfallzentrums von 300 Prozent im Vergleich zu 2019.»

Dabei habe man die Anzahl Betten diesen Sommer bereits um die Hälfte aufgestockt. Weil man nicht mehr allen sofort helfen könne, würden die Mitarbeitenden eine Triage machen: «Wer nicht akut gefährdet ist, bleibt auf einer Warteliste.»

Unterdessen stehen mehrere hundert Jugendliche auf der Warteliste. Es dauert ein Jahr, bis sie dran sind.

Eine schnelle psychiatrische Hilfe wäre aber nötig, sagt Michael Kaess: «Mit den Folgen davon werden wir noch lange kämpfen.»

SRF 1, Regionaljournal Bern Freiburg Wallis, 26.01.2022, 06.32 Uhr ; 

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