Es ist ein hartes Haftregime. Untersuchungshäftlinge sind meist von der Aussenwelt abgeschnitten, dürfen nicht arbeiten und die Gefängnisse sind überfüllt. Das erfahren die Klienten von Strafverteidiger Lukas Bürge am eigenen Leib: «Einer erzählte mir, er schlafe in der Zelle zwischen zwei Kajütenbetten auf einem Mätteli am Boden.» In einer Zelle notabene, die einst für zwei Insassen gebaut worden war. Im Kanton Bern beträgt die Gefängnisbelegung 130 Prozent.
Die Dauer der Untersuchungshaft (U-Haft) in der Schweiz hat sich innert 15 Jahren verdoppelt, dies zeigen Berechnungen von SRF. Heute sitzt ein Untersuchungshäftling im Schnitt über 70 Tage hinter Gittern – ohne Schuldspruch.
«Die Haftbedingungen in U-Haft sind massiv schlechter als im normalen Strafvollzug», erklärt Anwalt Bürge. In keiner Haftform kommt es so oft zu Suizid wie in U-Haft.
Was sind die Gründe für die lange Dauer? Berns oberste Staatsanwältin, Annatina Schultz, sagt: «Ich kann mir vorstellen, dass es teilweise mit der nationalen Strafprozessordnung von 2011 zusammenhängt. Zuvor gab es kantonale Regelungen.»
Die Strafprozessordnung wird oft als Grund für die Überlastung des Justizsystems zitiert. Etwa, weil sie Verfahren komplexer mache.
Aufwendige elektronische Ermittlungen
Doch die Haftdauer hat schon vor der neuen Strafprozessordnung zugenommen. Lukas Bürge ist auch Co-Präsident der Anwaltsvereinigung Strafverteidiger.ch. Er sieht einen weiteren Grund für die Zunahme in der Auswertung von elektronischen Daten in Computern oder Handys. «Das dauert vier bis fünf Monate, und die Person wartet derweil in Untersuchungshaft, bis die Auswertung vorliegt.»
Auch Staatsanwältin Annatina Schultz glaubt, die neuen Kommunikationsformen hätten die Ermittlungen komplexer gemacht: «Die Auswertung von digitalen Datenträgern gibt enorm viel zu tun, die Datenflut ist gross.» In der Folge ist die Staatsanwaltschaft überlastet.
U-Haft ist üblicherweise auf drei Monate befristet, kann aber mehrmals verlängert werden. Man behandle diese Fälle prioritär und halte alle Fristen ein, betont die Generalstaatsanwältin.
Auch wenn die Fristen eingehalten werden – noch nie sassen so viele Menschen in U-Haft. Ende 2024 waren es laut Bundesamt für Statistik 2211 Personen.
Benötigen die Untersuchungsbehörden mehr Personal? Aus Sicht von Strafverteidiger Bürge könnte dies durchaus helfen.
Schweiz ist Spitzenreiterin in Westeuropa
Doch Anwalt Bürge hegt noch einen anderen Verdacht: «Der Zeitgeist verlangt mehr Repression, Härte und Nulltoleranz.» Dies führe dazu, dass die Strafverfolger jemanden lieber mal etwas länger in U-Haft belassen würden.
Mit dieser Aussage ist die Staatsanwältin Schultz nicht einverstanden – man orientiere sich ja am Gesetz: «Die Gründe für eine Untersuchungshaft sind immer dieselben, und daran halten sich die Behörden.»
Die Schweiz belege bezüglich U-Haft in Westeuropa einen Spitzenplatz, schreibt die Menschenrechtsorganisation Humanrights.ch. «Nur Belgien hat eine gleich hohe U-Haft-Rate pro 100'000 Einwohnerinnen und Einwohner.»
Wieso ist die Untersuchungshaft in der Schweiz dermassen populär? Eine laufende Analyse zur Überlastung der Strafbehörden im Auftrag der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren könnte Licht ins Dunkel bringen. Resultate werden in zwei Jahren vorliegen. Bis dahin bleibt ein klares Urteil in diesem Fall schwierig.