Das Bundesgericht in Lausanne hat seinen Geschäftsbericht vorgestellt. Dies wäre ein Routinetermin, wenn nicht schon bald die SVP-Initiative «Landesrecht vor Völkerrecht» zur Abstimmung käme. Sie ist eine Reaktion der Volkspartei auf einen Bundesgerichtsentscheid, der die Wirkung der Ausschaffungsinitiative eingeschränkt hatte.
Im Interview mit SRF erläutert Bundesgerichtspräsident Ulrich Meyer, wie das Gericht mit dem politischen Druck umgeht.
SRF News: Das Bundesgericht steht wegen der SVP-Initiative «Landesrecht vor Völkerrecht» im Scheinwerferlicht. Wird sich das Bundesgericht in der Diskussion äussern?
Ulrich Meyer: Wir leben nach unserer Verfassung in einem gewaltenteiligen Staat. Sache des Bundesgerichts ist das Recht. Die Politik ist Sache der Bundesversammlung. Das Bundesgericht mischt sich nicht in die Politik ein.
Das Bundesgericht mischt sich nicht in die Politik ein.
Die Debatte betrifft das Bundesgericht sehr direkt. So hat etwa alt Bundesrat und SVP-Stratege Christoph Blocher dem Bundesgericht zu Jahresbeginn vorgeworfen, sich an einem stillen Staatsstreich zu beteiligen. «Die Bundesrichter haben nicht nur das Volk, sondern auch das Parlament entmachtet», sagte Blocher. Lässt Sie das unberührt?
Über die Rechtsprechung des Bundesgerichts ist sehr viel Tinte und Druckerschwärze verwendet worden. Es würde wenig Sinn ergeben, wenn nun auch noch der Bundesgerichtspräsident dazu seine Meinung abgäbe. Es handelt sich hier typischerweise um eine politische Bewertung, zu der ich mich als Bundesgerichtspräsident weder äussern kann noch will.
Die stärkste Partei im Parlament, die SVP, wirft dem Bundesgericht vor, es habe die Rechtsprechung auf den Kopf gestellt, indem es internationales Recht über die Verfassung gestellt habe. Ist dieser Vorwurf juristisch zutreffend?
Das Bundesgericht urteilt nicht politisch. Aber es ist klar, dass bundesgerichtliche Urteile politische Auswirkungen haben können. Die Problematik, die Sie ansprechen, ist gegenwärtig in den eidgenössischen Räten in Behandlung. Allein das schliesst eine Stellungnahme meinerseits aus.
Das Vertrauen in das Bundesgericht ist ungebrochen.
Wie viel Vertrauen geniesst das Bundesgericht heute noch?
Was soll das Wörtchen «noch»? Das Vertrauen in das Bundesgericht ist ungebrochen.
Worauf fusst Ihre Zuversicht? Die Verwahrungsinitiative, die Ausschaffungsinitiative oder die Raser-Gesetzgebung sind von einem Misstrauen gegenüber den Gerichten geprägt und gegenüber den Spielräumen, innerhalb derer die Richter ihre Urteile treffen können. Sehen Sie darin nicht ein Misstrauen gegenüber der Justiz?
Wir leben in einer hochkomplexen und differenzierten Zeit. Das Bedürfnis nach einfachen Lösungen ist deshalb sehr verständlich. Doch das hat nichts mit einem Misstrauen ins Bundesgericht zu tun.
Das Bedürfnis nach einfachen Lösungen ist verständlich. Doch das hat nichts mit einem Misstrauen ins Bundesgericht zu tun.
Gleichzeitig wird das Bundesgericht wegen politischen Fragen angerufen: etwa wegen Abstimmungsergebnissen oder der Argumentation im Abstimmungsbüchlein in einem Referendumskampf. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?
Es ist eine der ältesten Aufgaben des Bundesgerichts, über die politischen Rechte der Bürgerinnen und Bürger zu wachen. Auf kommunaler und kantonaler Ebene besteht diese Aufgabe in voller Ausprägung, auf Bundesebene ist die Befugnis des Bundesgerichts allerdings beschränkt. Das Bundesgericht sucht keine neuen Aufgaben, es weist auch keine neuen Aufgaben ab. Es nimmt jene Aufgaben wahr, welche ihm Verfassungs- und Gesetzgeber zuweisen.
Wie passt es zusammen, dass immer mehr Fälle vor Gericht gezogen werden – und die Gerichte zugleich an Vertrauen verlieren?
Es ist eine allgemeine Zeiterscheinung, dass der Bürger, die Bürgerin Behördenentscheide in der Medizin oder im Erziehungswesen nicht einfach hinnimmt, sondern kritisch hinterfragt. Das ist an sich sehr positiv. Wieso sollte ausgerechnet die Justiz im Allgemeinen und das Bundesgericht im Besonderen davon ausgenommen sein? Eine kritische Haltung ist geradezu eine staatsbürgerliche Tugend.
Das Gespräch führte Sascha Buchbinder.