Der Gemeinderat von Kandersteg BE hatte sich letzten Mittwoch gerade zur Sitzung getroffen, als nur 13 Kilometer Luftlinie entfernt der Gletscher oberhalb von Blatten VS herabstürzte. «Wir waren sehr betroffen», sagt Gemeinderatspräsident René Maeder.
Der Hotelier weiss, was es heisst, wenn ein Berg ins Rutschen gerät. Seit einigen Jahren brechen beim Spitzen Stein oberhalb von Kandersteg immer wieder tausende Kubikmeter Gestein ab und donnern talwärts. Zwar rechnen Geologen damit, dass der Berg nach und nach in kleinen Stücken abstürzt. Im schlimmsten Fall brechen aber rund 16 Millionen Kubikmeter auf einmal ab. Zum Vergleich: In Blatten sind rund neun Millionen Kubikmeter heruntergekommen.
Evakuation nur im Worst Case
Dennoch bleibt Gemeindepräsident René Maeder angesichts der Ereignisse in Blatten ruhig: «Ich habe Respekt vor der Natur, aber keine Angst.»
Hätten wir einen Abbruch wie in Blatten, müssten wir mit Murgängen bis Anfang Dorf rechnen.
Zwar gäbe es zwischen Kandersteg und Blatten durchaus Parallelen, etwa bei den Murgängen. «Hätten wir einen Abbruch wie in Blatten, müssten wir mit Murgängen bis Anfang Dorf rechnen», sagt er. Ausserdem seien auch in Kandersteg Evakuationen vorgesehen, allerdings nur im Worst Case, etwa bei grossen Rutschungen. Darauf sei man vorbereitet: «Wir haben Pläne, wer wohin muss und werden das auch üben.» Allerdings sei das schlimmste Szenario laut Experten wenig wahrscheinlich.
Gleichzeitig gibt es laut Gemeindepräsident René Maeder klare Unterschiede zwischen den beiden Gemeinden. Anders als der Gletscher in Blatten bedrohe der Spitze Stein das Dorf Kandersteg nicht unmittelbar. «Alles, was herunterkommt, gelangt ins Tal zwischen Oeschinensee und Kandersteg.»
Widerstand gegen Baustopp
Seit 2020 haben Kanton und Gemeinde in Kandersteg Schutzmassnahmen für elf Millionen Franken gebaut: zwei Dämme am Öschibach, Geländeanpassungen, Betonsperren und Murgangnetze. Ausserdem wird der Spitze Stein rund um die Uhr überwacht. Und: Seit 2022 gilt praktisch im ganzen Dorf ein Bauverbot.
Wenn wir immer vom Worst Case ausgehen, wird das Leben sehr schwierig.
Die baulichen Einschränkungen sorgen in Kandersteg für Widerstand. So will etwa die Interessensgemeinschaft Spitzer Stein Lockerungen erzielen. Daran haben auch die Ereignisse in Blatten nichts geändert. Die Bilder vom Gletscherabbruch gäben einem zu denken, sagt Vize-Präsident Simon Hari, «aber wenn wir immer vom Worst Case ausgehen, wird das Leben sehr schwierig».
Kandersteg brauche Entwicklungsmöglichkeiten: «Momentan sind wir blockiert.» So gäbe es etwa für eine grössere Haussanierung keine Baubewilligung.
Bei Abbruch ist Wassermenge entscheidend
Parallelen zwischen Kandersteg und Blatten sieht auch Nils Hählen, Leiter Abteilung Naturgefahren beim Kanton Bern: «In beiden Fällen geht es um eine Instabilität im Hochgebirge mit grossem Volumen.» Ein wesentlicher Unterschied sei jedoch, dass im Absturzbereich beim Spitzen Stein kein Gletscher liege. «Bei grossen Abbrüchen ist es entscheidend, wie viel Wasser verfügbar ist.»
Ein mögliches Szenario ist ein Abbruch von etwa acht Millionen Kubikmetern.
Ausserdem geht Hählen davon aus, dass der Spitze Stein nicht auf einmal abbricht. «Ein mögliches Szenario in den nächsten zehn Jahren ist ein Abbruch von etwa acht Millionen Kubikmetern – das würde vom Volumen her etwa dem Abbruch von Blatten entsprechen.» Hählen rechnet mit einer «mittleren Wahrscheinlichkeit», dass dieses Szenario eintritt.
Was bereits jetzt klar ist: die Erkenntnisse von Blatten werden bei der Beurteilung des Spitzen Steins berücksichtigt.