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Konflikt im Nahen Osten Calmy-Rey: «Die internationale Gemeinschaft ist gescheitert»

Es war eine ihrer ersten grossen Aktionen als Schweizer Aussenministerin: Micheline Calmy-Rey lancierte zusammen mit einer israelischen und palästinensischen Delegation die sogenannte «Genfer Initiative» für einen Frieden in Nahost. Fast zwanzig Jahre später blickt sie enttäuscht auf die aktuellen Ereignisse.

Micheline Calmy-Rey

Ehemalige Aussenministerin

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Die SP-Politikerin war von 2003 bis 2011 als Mitglied des Bundesrates Vorsteherin des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA). Von 1997 bis 2002 war Calmy-Rey Mitglied des Genfer Staatsrat.

SRF News: Wie sehen Sie die neue Eskalation in Nahost?

Micheline Calmy-Rey: Es ist schrecklich, wir sind alle sehr berührt von diesen Bildern von Raketenangriffen, von Attacken auf die Zivilbevölkerung, von Vätern, Müttern und Kindern, die sterben, von Hunderten von Verletzten. Die Geschichte wiederholt sich. Diese Ressentiments, dieser Hass, die schon seit langem herrschen. Und plötzlich bringt ein Funke alles zum Brennen.

Dieser Konflikt ist gespickt mit Verstössen gegen internationales Recht, insbesondere des humanitären Rechts. Niemand wird zur Rechenschaft gezogen oder bestraft, niemand reagiert.

Und es ist ein Scheitern der internationalen Gemeinschaft, die wegschaut – insbesondere die US-Administration.

Es ist ein Scheitern des Humanitären Rechts. Und es ist auch ein Scheitern der internationalen Gemeinschaft, die wegschaut – insbesondere die US-Administration, die nun merkt, dass das angesichts der Gewalt nicht mehr möglich ist. Und dass es nicht nur China, Asien oder den Iran gibt, sondern dass es auch dort (in Nahost, d. Red.) einen Gewalt- und Konfliktherd gibt.

Das ist das Ende der Epoche von Trump. Einer Epoche, als man glaubte, die Forderungen der Palästinenser verschmähen zu können und eine Normalisierung mit den Golfstaaten wollte. Aber das ist vorbei. Jetzt muss die Administration Biden helfen, den Weg für einen Waffenstillstand zu ebnen.

Sie selbst haben vor fast zwanzig Jahren die «Genfer Initiative» mitgetragen. Damals herrschten viel Enthusiasmus und viel Hoffnung rund um diesen Friedensplan. Haben Sie 2003 wirklich daran geglaubt?

Natürlich haben wir daran geglaubt. Und nicht nur das: Wir haben Hunderte Seiten redigiert und ausgebreitet, die alle Fragen abhandelten, die sich hätten stellen können und gelöst werden mussten bei der Umsetzung einer Initiative von zwei Staaten, die in Harmonie nebeneinander hätten leben sollen.

Die «Genfer Initiative»

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Ende November 2003 lancierten prominente Israelis und Palästinenser im Beisein der damaligen Aussenministerin Micheline Calmy-Rey in Genf eine Friedensinitiative zur Beendigung des Konflikts in Nahost .

Die Schweiz war Depositärstaat und hatte die Ausarbeitung des symbolischen und privaten Modellvertrags logistisch unterstützt, sich aber nicht an dessen Inhalt beteiligt. Das 50-seitige Dokument sollte Lösungen für die strittigsten Fragen zwischen Palästinensern und Israelis anbieten: unter anderem die Gründung eines Palästinenserstaates, die Zukunft Jerusalems als Hauptstadt Israels und der Palästinenser sowie die Verwaltung der religiösen Heiligtümer. Die Umsetzung und Einhaltung des Vertrages sollte durch eine internationale Beobachtertruppe gewährleistet werden.

Beide Parteien hätten sehr schmerzhafte Kompromisse machen müssen, betonte Calmy-Rey damals. So waren die Palästinenser erstmals vom Rückkehrrecht der 4.1 Mio. Flüchtlinge nach Israel abgerückt und stimmten einem Gebietsaustausch mit Israel zu.

Die damalige israelische Regierung unter Ariel Sharon lehnte die Genfer Initiative kategorisch ab, Palästinenserführer Yasser Arafat soll das Abkommen unterstützt haben, wenn auch nicht offiziell.

Leider hat das nicht funktioniert. Was ich aber jetzt feststelle ist, dass viele Länder der internationalen Gemeinschaft – in Ermangelung eines Besseren – diesen Plan wieder aus der Tasche ziehen.

Zwei Männer schüttlen sich die Hand.
Legende: 1. Dezember 2003: Die «Genfer Initiative» ist lanciert. Der Chef der palästinensischen Delegation, Yasser Abed Rabbo (rechts), reicht dem ehemaligen israelischen Justizminister und Chef der israelischen Delegation, Yossi Beilin, die Hand. Keystone

Ist dieser Plan überhaupt realistisch, angesichts der Tatsache, dass die beiden Parteien unversöhnbar sind?

Realistisch? Wie sehr kann es realistisch sein einen Staat zu bilden mit einem Stückchen Land? Das palästinensische Gebiet ist zerstückelt. Dazu kommt die Umsiedlung von Siedlern und der vertriebenen Palästinenser, die zurückkehren wollen. Ich kann mir das nicht vorstellen.

Kurzfristig wird es zu ein Waffenstillstand kommen, der von Katar, Ägypten und den USA ermöglicht wird.

Kann die Schweiz mit ihrer Tradition der guten Dienste noch eine Rolle in der Lösung dieses Konfliktes spielen?

Die Schweiz hat die Haltung vieler Länder eingenommen. Sie fordert eine Deeskalation und eine Zweistaatenlösung. Kurzfristig wird es zu einem Waffenstillstand kommen, der von Katar, Ägypten und den USA ermöglicht wird.

Hoffentlich erreicht man das, um sich auf ein höheres Ziel konzentrieren zu können – nämlich herauszufinden, wie man es schafft, dass diese beiden Gemeinschaften zusammenleben. Und dies angesichts einer weiteren Schwierigkeit: die jüdische und arabisch-palästinensische Bevölkerung muss nun auf einem einzigen Territorium, Israel, koexistieren.

Und das ist wirklich eine grosse Herausforderung für die israelische Macht. Denn es ist unklar, wie lange sie noch zwei Fronten gleichzeitig verkraften kann, die des israelisch-palästinensischen Konflikts und die innere Front.

Das Gespräch führte Fanny Zürcher.

SRF 4 News, 12 Uhr ; 

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