Anstoss zur Gesetzesänderung war der Fall eines Tessiner Jugendseelsorgers, der im August in Lugano wegen mehrfacher sexueller Nötigung von Jugendlichen verurteilt wurde. Es dauerte Jahre, bis die Diözese Lugano den Fall den Justizbehörden meldete.
Der katholische Priester konnte in dieser Zeit unbehelligt agieren, obwohl die Kirche von den Vorwürfen wusste. «So etwas darf sich nie mehr wiederholen», sagt Giuseppe Sergi von der sozialistischen Mini-Partei MPS.
Wegweisendes Gesetz
Der Kantonsrat hat deshalb die Gesetzesänderung eingebracht, über die das Plenum nun entschieden hat. Zwei wichtige Punkte sehe die Gesetzesänderung vor, sagt Sergi:
- Erstens eine Frist von 30 Tagen, innerhalb derer Vorgesetzte bei Verdacht die Behörden einschalten müssen.
- Zweitens gilt die Meldepflicht nicht nur bei minderjährigen oder urteilsunfähigen Personen, sondern auch bei Erwachsenen in einem Abhängigkeitsverhältnis zu Geistlichen.
Geändert wird ein Artikel im Gesetz über die katholische und reformierte Kirche. Zwar kennt die katholische Kirche bereits verbindliche interne Richtlinien zu sexuellen Übergriffen, verabschiedet von der Bischofskonferenz.
Doch das reiche nicht, sagt Kirchenrechtler Stefan Loppacher: «Der Kanton Tessin sagt damit, dass es nicht bloss ein Desiderat ist, dass die Kirche mit Strafverfolgungsbehörden zusammenarbeitet – sondern, dass sie es tun muss.»
Loppacher weiss, wovon er spricht. Er ist Leiter der Nationalen Dienststelle Missbrauch der katholischen Kirche. «Die Geschichte im Umgang mit solchen Fällen zeigt, dass die kircheninternen Regeln nicht ausreichen, um adäquaten Schutz und Aufdeckung zu gewährleisten», sagt der Missbrauchsexperte.
Er wünscht sich deshalb, dass auch andere Kantone dem Tessin folgen. Denn für die Kirche seien solch klare Leitplanken eine grosse Hilfe.
Überforderung in der Kirche
«Für eine Institution ist es sehr schwierig, das selber zu regeln. Es gibt Interessenkonflikte und sie muss zwischen verschiedenen Rechtsgütern abwägen», sagt Loppacher. Fälle aufzuarbeiten, bei denen mutmassliche Täter aus den eigenen Reihen kommen, sei ungemein schwierig. «Selbst bei den besten Absichten und mit gutem Willen kann es hier zu einer Überforderung kommen.»
Es ist äusserst wichtig, den gesamten Weg mit dem Opfer zu gehen. Ihm zuzuhören, es zu begleiten.
Auch seitens der Opferhilfe begrüsst man dieses neue Gesetz. Es sei ein notwendiger Schritt, sagt Patrizia Cattaneo Beretta gegenüber RSI. Sie ist Co-Präsidentin von Gava, dem Tessiner Verein für Missbrauchsopfer im religiösen Bereich. «Das Gesetz braucht es, aber es reicht nicht», sagt Cattaneo Beretta. «Es ist äusserst wichtig, den gesamten Weg mit dem Opfer zu gehen. Ihm zuzuhören, es zu begleiten.»
Mit der Meldepflicht für die Landeskirchen geht der Kanton Tessin voran. Weiterhin nicht geregelt ist aber, wie die katholische Kirche mit den verurteilten Tätern umgeht, die ihre Strafe verbüsst haben.
Keine Rückkehr an die Kanzel
Missbrauchsexperte Loppacher hat hier eine klare Haltung. «Wenn ein Priester die physische, psychische oder sexuelle Integrität eines Menschen, geschweige denn einer minderjährigen Person, schädigt oder diesen Schaden auch nur in Kauf nimmt – dann hat er sein Recht verwirkt, für die Kirche zu arbeiten. Und zwar endgültig.»
Nulltoleranz. Nicht nur bei der Anzeige, sondern auch nach Verbüssen der Strafe. Bis diese Haltung in der Kirche konsequent umgesetzt wird, dürfte es noch dauern.