«Ich wurde mindestens fünfzehnmal angegangen.» Jaël Binggeli arbeitet für die Schweizerische Evangelische Allianz und zeigt sich auch auf digitalen Plattformen gläubig. Auf Instagram bekommt die 27-Jährige nun laufend Nachrichten, ob sie sich für ein Bibeltreffen verabreden wolle – der Absender: Unbekannt.
«Die Nachrichten waren sympathisch verfasst und gingen teils genau auf mein Instagram-Profil ein. Doch ich hatte keine Ahnung, wer dahintersteckt», sagt Binggeli.
Das Muster ist jedoch deutlich erkennbar: Hinter den Nachrichten verbirgt sich die koreanische Neuoffenbarungsreligion Shincheonji (Sprich: Schinschonschi). Diese versucht auch in der Schweiz massiv über digitale Kanäle zu missionieren.
Anfänglich geht es bei den Avancen nur um einen lockeren Glaubens-Austausch. Es folgen jedoch schnell Angebote für Bibelkurse, in welchen die Shincheonji-Lehren allmählich beigebracht werden.
Die Problematik: Das Glaubenssystem der Shincheonji ist stark dualistisch aufgebaut. Entweder ist man Mitglied und gehört so zu den Auserwählten oder man ist dem Untergang geweiht. Zudem wird die Organisation streng hierarchisch und autoritär von Gründer Man-Hee Lee geführt. Dieser Druck kapselt die neuen Mitglieder immer mehr vom eigenen Umfeld ab.
Ein Netz aus Lügen
Viktoria* (Name geändert), war während dreier Jahre Mitglied beim Schweizer Ableger der Kirche. Sie spricht von bis zu 300 Personen, die in der Schweiz involviert sind. Sie erzählt, dass die Organisation verschlossen sei und dass niemand etwas erfahren dürfe. «Ich musste meine Familie und Freunde anlügen – ich habe komplett ein Zweitleben geführt.»
Der Druck innerhalb von Shincheonji sei wahnsinnig gross gewesen. Immer wieder mussten die Mitglieder Prüfungen ablegen, um zu zeigen, dass sie die Bibelauslegung von Man-Hee Lee auch wirklich verstanden hatten.
Zudem werden die Mitglieder gedrängt, selbst zu missionieren. «Mein Gruppenführer hat mich immer wieder gefragt, wie viele Leute ich schon angesprochen hätte. Irgendwann habe ich tatsächlich jemanden überzeugt, Mitglied zu werden.» Bis heute habe Viktoria deshalb ein schlechtes Gewissen.
Neben der Arbeit gab es für Viktoria nur Aktivitäten mit Shincheonji-Mitgliedern. Es sei ein konstanter psychischer Stress gewesen: «Es ging so weit, dass mich während eines Spitalaufenthaltes Mitglieder überzeugen wollten, online an den Gottesdiensten teilzunehmen.» Da habe sie gemerkt, dass sie so nicht mehr weitermachen könne und stieg aus.
Friedensorganisationen als Tarnung
Um neue Mitglieder anzuwerben, bedient sich Shincheonji auch der Täuschung und Tarnung. Führer Man-Hee Lee hat dafür verschiedene Tarnorganisationen gegründet. Diese treten als Friedensstiftungen auf, organisieren Treffen und Events, alles mit dem offiziellen Ziel des Weltfriedens. Aussagen von Aussteigerinnen und Aussteigern sowie Experten und Expertinnen bestätigen aber, dass diese Organisationen zu Missionierungszwecken genutzt werden.
Viktoria ist der Ausstieg mittlerweile geglückt, nachdem sie online Erfahrungsberichte von Personen in ähnlichen Positionen entdeckt und sich daraufhin von Shincheonji distanziert hatte. Wenn sie an ihre ehemaligen Mitstreiter denkt, verspürt sie keine Wut: «Ich habe viel mehr Mitleid mit ihnen – weil ich weiss, unter was für einem wahnsinnigen psychischen Druck sie stehen.»