Wissen, wie die Schweiz entstanden ist und wie sie funktioniert. Dies sind wichtige Kompetenzen für Schulkinder, denn sie sollen sich später aktiv am politischen Leben in der direkten Demokratie beteiligen. Doch ausgerechnet der Geschichtsunterricht stecke in der Krise, sagen viele Lehrkräfte aus verschiedenen Kantonen.
Urs Kalberer ist seit 35 Jahren Geschichtslehrer, seit 20 Jahren im bündnerischen Landquart. Er hat Hunderte Jugendliche kommen und gehen sehen und manche Bildungsreform miterlebt. Doch seit ein paar Jahren ortet er eine «Krise des Geschichtsunterrichts». Die Schmerzgrenze sei erreicht, weil heute für Geschichte weniger Lektionen zur Verfügung stünden als früher. Und zwar wegen des Lehrplans 21 aller Deutschschweizer Kantone.
Weniger Zeit im neuen Sammelfach
Denn mit dem Lehrplan 21 ist aus den beiden Fächern Geografie und Geschichte das Sammelfach «Räume – Zeiten – Gesellschaften» – RZG – gebildet worden. Dazu sind in der Sekundarschule drei Lektionen pro Woche vorgesehen. Im alten Lehrplan waren es in vielen Kantonen noch je zwei Lektionen für Geografie und Geschichte.
Der Abbau habe sich negativ auf den Geschichtsunterricht ausgewirkt, sagt der 60-jährige Sekundarlehrer: «Früher hatte man mehr Zeit. Auch schwächere Schülerinnen und Schüler konnten etwas erreichen.» Mit dem heutigen Schnellzugstempo bekämen schwächere Schüler weniger mit.
Heute fährt man mit Schnellzugstempo durch den Stoff, und schwächere Schüler bekommen so weniger mit.
Auch Lehrerinnen und Lehrer aus anderen Kantonen beklagen, dass wichtige Themen wie die Entstehung des Schweizer Bundesstaats oder der Zweite Weltkrieg weniger ausführlich behandelt werden könnten.
Dies sei bedauerlich, sagt auch Peter Gautschi, Leiter des Instituts für Geschichtsdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Luzern. Denn die Anforderungen der Gesellschaft an den Geschichtsunterricht seien trotz sinkender Lernzeit gestiegen: «Es sind neue Themen dazugekommen, etwa der Ukraine-Krieg. Es gibt neue Ziele, wie das Erkennen von Fake News.»
Die Anforderungen der Gesellschaft an den Geschichtsunterricht sind trotz sinkender Lernzeit gestiegen.
Dazu kommen laut Gautschi auch neue Ansprüche, denn die Geschichte soll stärker die Identität der einzelnen Schülerinnen und Schüler ausbilden. Es soll politische Bildung gemacht werden. Und das alles trotz sinkender Lernzeit: «So bleiben viele dieser Probleme an der Lehrerschaft hängen, die dann diese Überforderung aussprechen.»
Mehr Platz für neue Fächer
Für das Sammelfach «Räume – Zeiten – Gesellschaften» gebe es zwei Gründe, erklärt Dominik Sauerländer, Didaktik-Professor an der Fachhochschule Nordwestschweiz: Es brauchte im Stundenplan einerseits Platz für neue Inhalte wie «Medien und Informatik».
Andererseits gehe es um vernetztes Denken: «Wichtige Themen wie Klimawandel oder Migration haben eine geografische wie auch eine historische Dimension.» Er steht also hinter dem RZG-Konzept, doch auch er ermahnt zu «mindestens je zwei Lektionen für Geschichte und Geografie».
Kantone wollen abwarten
Bei den Kantonen, die für die Umsetzung des Lehrplans zuständig sind, hat man kein Gehör für diese Kritik. Drei Lektionen für RZG genügten und der Lehrplan 21 sei auf dem richtigen Weg, sagt Volkschulamtsleiterin Myriam Ziegler im Kanton Zürich: «Die zusammengeführten Fächer bilden eine gute Basis, um die Schülerschaft mit den verschiedenen Themen aus unterschiedlichen Blickwinkeln vertraut zu machen.» Die Kantone wollen nun erst einmal abwarten, wie sich der neue Lehrplan bewährt.