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Kulturelle Aneignung? Wenn Rastalocken und Reggae für einen Sturm der Empörung sorgen

Die Dreadlocks Berner Reggae-Musiker lösten einen Shitstorm aus. Ein Blick auf die Tücken des kulturellen Austauschs.

Die Schweizer Band «Lauwarm» ist derzeit in eine hitzige Debatte verstrickt: Ist es zulässig, dass sich fünf weisse Männer dem jamaikanischen Reggae verschreiben, teils mit Rastalocken und afrikanischer Kleidung? Oder handelt es sich hierbei um eine Grenzüberschreitung? Eine sogenannte kulturelle Aneignung?

Mit solchen Fragen sah sich jüngst die Berner Brasserie Lorraine konfrontiert: Sie hatte «Lauwarm» gebucht und brach das Konzert nach kritischen Rückmeldungen aus dem Publikum ab.

So kam es zum Konzertabbruch

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Am 18. Juli trat die Mundartband «Lauwarm» in der Brasserie Lorraine in Bern auf. Dass sie jamaikanische Musik spielt und teils afrikanische Kleidung und Dreadlocks trägt, störte einige Besucherinnen und Besucher.

«Mehrere Menschen unabhängig voneinander» hätten «Unwohlsein mit der Situation» geäussert, schreibt die Brasserie auf ihrer Facebook-Seite , wo sie den Vorfall am 25. Juli publik macht. «Es ging dabei um die Thematik ‹Kulturelle Aneignung›.» Nach einem Gespräch mit der Band habe man gemeinsam entschieden, das Konzert abzubrechen.

Die Brasserie Lorraine sei nicht der Meinung, «dass Mitglieder der Band oder ‹weisse› Menschen automatisch Rassisten sind», hält das Lokal tags darauf in einer Stellungnahme fest. Mit der Veröffentlichung des Vorfalls und einem für den 19. August angesetzten Diskussionsabend wolle man für den nötigen Diskurs sorgen.

Der Fall schlägt medial Wellen über die Landesgrenzen hinaus – auch Frontmann Dominik Plumettaz ist mit Reaktionen überhäuft worden. Jetzt, mit etwas Abstand, sagt er: «Wir stehen zu dem, was wir machen.» Aber am Konzert selbst sei der Vorwurf der kulturellen Aneignung «wie ein Dolch ins Herz» gewesen.

Das versteht man unter kultureller Aneignung

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Wenn sich Menschen einer Kultur bedienen, die nicht ihre eigene ist, spricht man von kultureller Aneignung (engl. Cultural appropriation). Der Begriff stammt aus den postkolonialen Studien. Er meint die unangemessene Inanspruchnahme fremder Kulturtechniken und Symbole durch die mächtigere Mehrheitsgesellschaft.

Sozialwissenschaftler Henri-Michel Yéré definiert kulturelle Aneignung wie folgt: «Ein Vertreter einer Mehrheitsgruppe übernimmt ohne Anerkennung ein Objekt oder einen Teil der Kultur einer Minderheitsgruppe.» Unter «cultural appropriation» falle auch, dass man einen kulturellen Aspekt als Klischee ausspiele – ohne Respekt vor der Geschichte der jeweiligen Minderheit.

Dass einige Mitglieder von «Lauwarm» afrikanische Kleider tragen würden, komme nicht von ungefähr: «Sie spielen in Afrobands, sind eng mit diesen Kulturen verbunden», sagt Plumettaz. Ebenso widme man sich dem Reggae, weil man dessen Werte teile. Und daran wolle man festhalten, so Plumettaz. «Wenn man in einer anderen Kultur etwas Inspirierendes findet und es in die eigene Kreativität einbaut, ist dies doch etwas sehr Verbindendes.»

Gefahr der Kulturpolizei droht

Musiker Marc Sway, Sohn einer brasilianischen Perkussionistin und eines Schweizer Rocksängers, hat den Berner Vorfall mitverfolgt. Solche Wertungen nähmen der Musik die Magie – und seien gefährlich: «Man könnte ja jetzt sagen, das Glück meiner DNA legitimiert mich musikalisch zu machen, was ich mache – und alle anderen nicht.» Mit dieser Haltung lande man am Ende bei einer Kulturpolizei.

Solange Kunst nicht verletzend ist, sollte Kunst ihre Freiheit behalten.
Autor: Marc Sway Musiker

«Selbst in Momenten, die geschichtlich schwierig waren, wo viel Leid passiert ist, glaube ich, hat Musik am Schluss mehr zusammengebracht als gespalten.» Für Sway ist daher klar: «Solange Kunst nicht verletzend ist, sollte Kunst ihre Freiheit behalten. Man sollte sie auf keinen Fall verkopfen.» Und er verweist auf das Beispiel Bob Marley: Gerade dass dieser den traditionellen Reggae mit populären Elementen vermischt habe, habe die Musik für eine breite Masse zugänglich gemacht.

Machtverhältnisse schwingen immer mit

Etwas anderer Meinung ist Henri-Michel Yéré. Der Sozialwissenschaftler forscht an der Universität Basel und ist an der Elfenbeinküste aufgewachsen. Zwar würde er es für verfehlt halten, Menschen mit weisser Hautfarbe nun einfach das Tragen von Rastalocken zu verbieten. «Denn es kann auch eine Geste von Solidarität sein.»

Eine tätowierte weisse Frau in einem Campingbus trägt Dreadlocks.
Legende: Dreadlocks, die traditionelle jamaikanische Frisur, sind ein klassisches Beispiel für kulturelle Aneignung. imago images/Mikel Quina

Auch müsse man sich fragen, inwiefern sich Reggae-Musiker wie «Lauwarm» als Teil einer Befreiungsbewegung sehen. Doch Yéré warnt davor, Kulturen als blosse Güter zu betrachten. «Es geht hier nicht nur um einen kulturellen Austausch.» Man müsse auch den jeweiligen Kontext, damit verbundene Machtverhältnisse kennen.

Es geht hier nicht nur bloss um einen kulturellen Austausch.
Autor: Henri-Michel Yéré Sozialwissenschaftler

Im Falle der Rastalocken heisst das: Dreadlocks waren in der jamaikanischen Kultur ein Zeichen von Widerstand gegen Rassismus. Es reiche nicht, eine Kultur bloss zu zelebrieren, sagt Yéré. Man müsse deren Geschichte ernst nehmen.

Wenn Frisuren einen Shitstorm auslösen

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Beispiele für kulturelle Aneignung, die öffentliche Empörung auslösten, findet man etwa im Bereich der Musik oder Mode: Im März dieses Jahres hatte in Deutschland die Bewegung «Fridays for Future» die weisse Musikerin Ronja Maltzahn, die bei einer Demonstration auftreten sollte, wegen ihrer Rastalocken wieder ausgeladen. Die Begründung: Mit Dreadlocks, der traditionellen jamaikanischen Frisur, eigne sie sich die Identität schwarzer Menschen an, die der Kolonialismus ausgebeutet habe.

Geflochtene Zöpfchen wiederum, wie sie etwa afroamerikanische Frauen tragen, wurden Katy Perry in einem ihrer Musikvideos zum Verhängnis. Der Vorwurf: Privilegierte Weisse wie Perry würden sich bei ausgegrenzten Kulturen bedienen und damit Millionen verdienen.

Spirituelles Zeichen wird zum Modeaccessoire

Ein weiteres Beispiel für kulturelle Aneignung: Mitte der 1990er-Jahre haben weisse Popstars wie Madonna das Bindi als modisches Accessoire eingeführt. Der rote Punkt auf der Stirn, den einige indische Frauen tragen, wurde schick – unabhängig von seiner spirituellen Bedeutung. Ursprünglich ist das Bindi ein Segenssymbol, das vor allem verheiratete Frauen tragen.

Auch Jamie Oliver musste im Zusammenhang mit «cultural appropriation» bereits Kritik einstecken: Als er ein Rezept für jamaikanischen Jerk Rice vorstellte, hiess es, das habe nichts mit dem Original zu tun und er schmücke sich mit Federn fremder Küchen.

Die Diskussion um kulturelle Aneignung flammte zuerst in den USA auf. Dass sie nun in die Schweiz überschwappe, erstaunt Yéré nicht. «In allen Gesellschaften, in denen es Minderheiten gibt, die sich unter Druck fühlen, kulturell, finanziell, sexuell, werden sich solche Fragen einmal stellen.»

Und dass die Debatte stattfindet, ist ganz im Sinne der attackierten Berner Band. Dominik Plumettaz sagt: «Uns ist es wichtig, dass wir diese Diskussion führen – neutral und auf Respekt basierend.»

Virus Newscheck, 27.07.2022, 16:15 Uhr ; 

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