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Langzeitfolgen von Corona «Ich bin beim Essen und Sprechen eingeschlafen»

Jeden Schritt muss sich Florence I. erkämpfen. Seit ihrer Corona-Infektion ist die Welt für die Geschäftsfrau aus den Fugen. Eine bleierne Müdigkeit macht ihr das Leben zur Hölle – seit Monaten.

Nach wenigen Minuten schaut Florence I. auf die Pulsuhr und geht in die Hocke. Die 43-Jährige ist ausgepumpt – vom Gemüse schälen. Eigentlich wollte sie ein wenig in der Küche anpacken. Aber das war schon zu viel.

Im Alltag geht nichts mehr, ohne dass Ehemann Patrick, die Töchter Jill und Ava und Mutter Monique ihr unter die Arme greifen. Selbst kleinste Tätigkeiten sind für Florence I. ein Kraftakt. «Sobald ich stehe und physisch etwas mache, beginne ich, mich zu verlangsamen. Wenn ich dazu noch spreche, ist dies eine zusätzliche Anstrengung.»

Schwindel und Atemschwierigkeiten

Dann kämpft sich Florence I. im Zeitlupentempo die Treppe zum Schlafzimmer hoch, um sich vor dem Mittagessen zu erholen. Seit sie sich vor über sieben Monaten mit Corona infiziert hat, leidet sie unter extremer Erschöpfung, Schwindel, Atem- und Konzentrationsschwierigkeiten. Zu mehr als 20 Prozent kann die Inhaberin eines Innendekorationsgeschäfts nicht mehr arbeiten, ohne Assistentin sind Kundenbesuche nicht möglich. «Derzeit wäre ich ausserstande, Rechnungen zu schreiben.»

Dabei hatte die Unternehmerin aus dem Kanton Zürich weder Vorerkrankungen, noch gehörte sie zu einer Risikogruppe. Florence I. bezeichnet sich als lebenslustige, aktive Frau. Zudem war sie passionierte Volleyballerin und fuhr leidenschaftlich Ski mit ihrer Familie.

Beim Essen und Sprechen eingeschlafen

Mitte April meldete sich ein trockener Husten, worauf Florence I. den Arzt konsultierte, der ihr ein Mittel gegen Asthma verschrieb. Ein Corona-Test habe nicht stattgefunden, da sie kein Fieber hatte, erzählt sie. Allerdings stellte sie schon damals fest, dass sich ihr Geschmacks- und Geruchssinn verändert hatten: Süsse Speisen nahm sie als salzig wahr. Ende Mai liess Florence I. einen Antikörpertest machen, der positiv ausfiel. Offensichtlich hatte sie sich doch mit dem Virus angesteckt.

Im Sommer überkamen sie heftige Anfälle von Tremor, Herzrasen, Schlaflosigkeit. Ihr Gehirn habe sich angefühlt wie vernebelt, erzählt die Kunsthistorikerin, die auf einmal nicht mehr wusste, wie man gewisse Wörter schreibt. Eine grosse Müdigkeit habe zu grotesken Situationen geführt. «Manchmal bin ich beim Essen und Sprechen eingeschlafen.»

Florence I. gehört inzwischen zu den Langzeitpatientinnen, den «longhaulers». Im Alltag muss sie auf vieles verzichten, was selbstverständlich war. «Jetzt, wenn der Schnee kommt, schicke ich die Kinder allein zum Schlitteln. Ich liebe es, im nahen Wald Kraft zu tanken. Aber ich muss mich wahnsinnig konzentrieren. Die Kinder sollten möglichst ruhig sein, weil mich zu viel Lärm anstrengt», sagt Florence I. und ringt um Fassung.

Die Familie leidet mit

Sie und ihre Angehörigen schwanken zwischen Bangen und Hoffen. Denn noch ist kein Ende in Sicht. Patrick I. leidet mit, «meine Frau bettlägerig zu sehen, gerade weil man den Kontrast zu gemeinsamen Erlebnissen in der Vergangenheit hat. Da tut es einem einfach weh». Mutter Monique G. kennt Florence I. als Energiebündel voller Tatendrang. «Jetzt ist sie nicht mehr die gleiche Tochter. Das stimmt einen sehr traurig». Auch die beiden Töchter sind niedergeschlagen. Jill, 9, hat «Angst um Mami». Die 6-jährige Ava ist traurig, «weil wir früher viel unternommen und Spass gehabt haben, als Mami fit war.»

Noch immer ist Florence I. so rasch und stark erschöpft, dass beim Spazieren ein Rollstuhl in Griffnähe sein muss. Ihr Gang schwankt, wie an jenem strahlenden Wintertag, als das Team von SRF sie besucht. Wie lange die Langzeitfolgen sie noch plagen werden und was die medizinischen Ursachen sind, weiss sie bis heute nicht. Immer wieder muss sie mit Rückschlägen rechnen. Florence I. bezeichnet sich als mental starke Persönlichkeit. Aber die Ungewissheit zehre an ihr. Es gebe Momente, wo sie fast verzweifle.

Trotzdem gibt sie sich optimistisch. Mit Physio- und Atemtherapie, ausserdem mit Meditation, versucht sie sich Schritt für Schritt in die Normalität zurückzukämpfen. Die Krankheit habe sie gelehrt, dankbar für kleine Freuden im Alltag zu sein – und Demut, «die Situation so annehmen, wie sie ist. Wir können nicht alles unter Kontrolle haben.» Sie habe lernen müssen, Hilfe anzunehmen. Die Situation werde sich verbessern, davon sei sie überzeugt. «Dieser Glaube gibt mir Kraft. Aber ich muss diese Kraft immer wieder suchen.»

Schweiz aktuell, 19 Uhr, 11.12.20

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