Gestrichene Flugverbindungen, geschlossene Grenzen: Beziehungen, die über Landesgrenzen hinweg geführt werden, sind in Coronazeiten schwierig.
Das ist nichts Neues: Binationale oder interkulturelle Paare kämpfen seit jeher gegen Widerstände. Das bestätigt auch Historiker Michael Jeismann.
SRF News: Seit dieser Woche ist es so, dass eine Partnerin oder ein Partner aus dem Ausland auch ohne Trauschein einreisen darf, wenn die Liebesbeziehung belegt werden kann, etwa mit einem Liebesbrief. Gibt es in der Geschichte andere Beispiele, wo ein Liebesbeleg verlangt wurde?
Michael Jeismann: Ja. Das erinnert mich sofort an die Zeit nach Perikles. Perikles hatte 450, 451 vor Christus eingeführt, dass nur Athener Bürger sein konnte, wer tatsächlich auch von einer Athenerin und einem Athener abstammte. Und so musste die Beglaubigung, dass jemand tatsächlich ein Athener war, immer sozial erbracht werden, indem alle anderen zustimmten: Ja, das ist ein Athener; und nein, er stammt nicht von einer Fremden ab.
Das heisst, die Politik hat Paaren schon immer Grenzen gezogen?
Ja, das kann man so sagen. Sie hat nicht nur Grenzen gezogen, sondern sie hat regelrecht sortiert. Wer war erwünscht? Wer nicht? Im Fall von Perikles ging es darum, allzu fremde Menschen von Athen fernzuhalten.
Perikles glaubte, dass bei zu vielen Menschen fremder Abstammung die Politik und die Solidarität darunter leiden würden.
Das hatte eine Fülle von Implikationen. Im Grunde fand er aber einfach, es gebe zu viele fremde Menschen im Athener Stadtwesen. Diese mussten gar nicht selbst fremd sein. Aber Perikles glaubte, dass bei zu vielen Menschen fremder Abstammung die Politik und die Solidarität darunter leiden würden.
Steckt da also eine kollektive Angst vor dem Fremden dahinter?
Ja, absolut. Angst, dass das Gemeinwesen in irgendeiner Weise leidet. Da sind diese Paare sozusagen das Übel im Innern, das man bekämpfen muss. Und ich habe festgestellt, dass es eine Geschichte der gemischten Paare bis heute gar nicht gab. Man hat immer gedacht: Gemischte Paare, das ist so etwas über interkulturelle Verständigung, Religion und dergleichen. Aber es ist tatsächlich eine ganz fundamentale, gesellschaftliche Kategorie: Wer darf dazugehören, wer nicht? Und zwar im intimsten Raum einer Gesellschaft, in der Familie.
Sehen Sie auch in der heutigen Zeit Beispiele, die das gut illustrieren?
Heute ist es nicht mehr so offensichtlich. Nach der grossen Abschaffung von allerlei Heiratsregeln im 19. und erneut in der Mitte des 20. Jahrhunderts, herrscht Freiheit. Sie können – bis auf wenige Ausnahmen im arabischen Raum – heiraten, wen sie wollen, wenn die Person einverstanden ist.
Selbst als die Heiratsbestimmungen fielen, sortierte sich trotzdem Geld zu Geld, Adel zu Adel, Bürgertum zu Bürgertum.
Aber Niklas Luhmann (ein Soziologe im 20. Jahrhundert, Anm. d. Red.) hat gezeigt, selbst als die Heiratsbestimmungen fielen, sortierte sich trotzdem, genau wie vorher, Geld zu Geld, Adel zu Adel, Bürgertum zu Bürgertum. Es blieb die Ausnahme, dass man sich sozial nach unten oder oben orientierte.
Wenn Sie sehen, wie mit interkulturellen Paaren umgegangen wird in der Coronakrise, was sagt das über unser politisches Bewusstsein aus?
Die Angst ist gross, auch bei so einer Epidemie, die ja für unsere moderne Gesellschaft relativ neu ist. Deshalb verwundert mich gar nicht mehr, dass man den Fremden für eher noch gefährlicher hält als den Einheimischen. Der einheimische Kranke ist weniger gefährlich als der fremd anmutende, ausländische Kranke. Und man darf nicht vergessen: Es geht auch um Kosten – um Krankenpflege, um Spitalbehandlungen und so weiter.
Das Gespräch führte Roger Brändlin.