Roger Bartholdi weiss, was es heisst, zu verlieren. Der 53-jährige Zürcher ist seit über 20 Jahren für die SVP im Stadtzürcher Parlament. Seine Partei verliert fast jede kommunale Abstimmung, stellt seit über 30 Jahren kein Stadtratsmitglied mehr und muss auch im Parlament stets Verbündete suchen.
Seine Partei versuche kreative Vorschläge zu machen, sagt Bartholdi, der lange auch SVP-Fraktionschef war. Erfolg hat die Partei mit ihren Vorstössen im Parlament jedoch nur, wenn sie auch einen Teil der linken Parteien für das Anliegen gewinnen kann.
Die Forderungen der Linken werden immer extremer.
Dies gelinge der SVP immer wieder, sagt Bartholdi nicht ohne Stolz. Es sei also auch in einem links geprägten Parlament möglich, mit Kreativität und Hartnäckigkeit Themen durchzubringen.
Allerdings werde dies immer schwieriger. Vor allem in den letzten vier Jahren hatten die linken Parteien in der Stadt Zürich eine komfortable Mehrheit. Das machte das Politisieren für die SVP im Ratsbetrieb noch schwieriger. Gerade die SP, mit Abstand grösste Partei in der Stadt Zürich, politisiere immer extremer und kompromissloser, beklagt sich Bartholdi. Deshalb setze man vermehrt auf Volksinitiativen. Derzeit sammelt die Stadtzürcher SVP beispielsweise Unterschriften für ein Tempo-30-Verbot auf Hauptstrassen.
Die Bonsaipartei in Nidwalden
Noch schwieriger ist die Situation für die junge Sandra Niederberger. Sie politisiert für die SP im Kanton Nidwalden. Die SP, immerhin schweizweit die zweitstärkste Partei, ist in keinem anderen Kanton so schwach vertreten wie im Innerschweizer Kanton Nidwalden. Gerade mal drei Prozent Wähleranteil hat die SP hier. Sie stellt lediglich zwei Sitze im 60-köpfigen Kantonsparlament.
Teilweise spürte ich Wut gegenüber gewissen Menschen.
Die 30-jährige Sandra Niederberger aus Hergiswil ist per Zufall in der Politik gelandet. So hat die SP Nidwalden ihren Bruder angefragt, ob er für den Landrat – so heisst das Kantonsparlament in Stans – kandidieren wolle. Er wollte nicht, schlug stattdessen seine Schwester vor, welche dann vor vier Jahren prompt gewählt wurde.
Ihr sei klar gewesen, dass sie im bürgerlich geprägten Nidwaldner Parlament wenig bewegen könne, dennoch sei es teilweise frustrierend, sagt Niederberger. Das sei so weit gegangen, dass sie Wut gegenüber Menschen verspürt habe, welche auf der anderen Seite des politischen Spektrums politisierten. Ein Gefühl, das sie früher nicht gekannt habe.
Kommissionsarbeit ist zentral
Dennoch ist die SP mit ihren zwei Sitzen nicht gänzlich einflusslos. Sie hat sich der in Nidwalden deutlich stärkeren Grünen-Fraktion angeschlossen. Das ermöglicht Sandra Niederberger auch in Kommissionen Einsitz zu nehmen. Man könne zwar aus der Minderheit nicht so viel gestalten, aber das Schlimmste verhindern, meint Niederberger.
Sarah Bütikofer ist Politikwissenschaftlerin mit Schwerpunkt Parlamentsforschung. Sie sagt, die Mitarbeit in Kommissionen sei zentral, um auch aus der Minderheit Positionen einzubringen, die auch Mitglieder anderer Parteien überzeugen könnten. In der Parlamentsdebatte sei es dafür zu spät. Deshalb sei es wichtig und richtig, wenn sich kleine Parteien einer anderen Fraktion anschliessen würden. Nur so könnten sie auch Einsitz in den Kommissionen nehmen, sagt Politologin Bütikofer.
Sich anderen Fraktionen anzuschliessen, ist das eine, um als Minderheitspartei in einem Parlament mehr mitwirken zu können. Bundes-, Kantons- und Gemeindeparlamente haben aber auch zahlreiche andere Minderheitsrechte institutionalisiert. Damit soll der Balance zwischen den Demokratieprinzipien «Gleichheit, Freiheit und Kontrolle» Rechnung getragen werden.
So braucht es beispielsweise in den meisten Parlamenten keine Mehrheit, um einen Vorstoss als dringlich zu erklären. Meistens reichen die Stimmen von einem Drittel des Parlaments oder noch weniger, um eine Debatte zu lancieren, die die Mehrheit vielleicht gar nicht wünscht. Auch einzelne Parlamentsmitglieder können in schriftlich oder mündlich formulierten Fragen Auskunft von der Regierung verlangen (siehe Kasten). Dieses Instrument könne wichtig sein, um sich zu profilieren, meint Bütikofer, indem beispielsweise eine spannende Frage oder die dann folgende Regierungsantwort ein Echo in den Medien finde.
Schweizer Politik ist Mannschaftssport
Dennoch sei die Schweizer Politik nicht auf Einzelkämpfer ausgelegt, sagt Bütikofer. Politik sei Mannschaftssport. Als Einzelperson etwas auszurichten, sei im Politbetrieb nahezu unmöglich. Wenn man eine Idee habe, brauche es die ganze Partei und meistens noch andere Verbündete, um diese Idee zu realisieren.
Die Frage ist natürlich, ob dieser Minderheitenschutz uns nicht zu viel kostet. Debatten werden dadurch verlängert und der Politbetrieb wird aufgebläht. Das Kostenargument ziehe in der Schweizer Politik nicht, meint Parlamentsforscherin Bütikofer. Denn die direkte Demokratie mit regelmässigen Volksabstimmungen und den damit verbundenen Kampagnen sei ohnehin ein teures Politsystem. Aber das sei der Preis, den man sich für die direkte Demokratie leisten wolle. Das Resultat sei ja, dass die Bevölkerung in der Schweiz mehr Vertrauen habe in die Institutionen als in anderen westlichen Demokratien.
Bütikofer findet auch nicht, dass der Minderheitenschutz verantwortlich ist für Verzögerungen oder gar Blockaden. Die aktuellen Blockaden bei der Rentenreform, im Gesundheitswesen oder in der Europapolitik hätten nicht die Minderheiten zu verantworten, sondern etablierte Parteien, meint die Politologin.
Bartholdi macht weiter, Niederberger gibt auf
Allem Minderheitenschutz in der Schweizer Politik zum Trotz, die Vertreter dieser Politikergattung haben vergleichsweise wenig Einfluss. SVP-Gemeinderat Bartholdi will deshalb weiterkämpfen und seine Partei in Zürich wieder grösser machen. Man müsse die potenziellen SVP-Wählerinnen und Wähler besser mobilisieren, sagt er auch selbstkritisch.
Der Podcast, der zeigt, was Politik in unserem Leben anstellt. Hier erfahrt ihr, wie und weshalb. Die Hosts Reena Thelly und Raphaël Günther zoomen mit Inlandjournalistinnen und -journalisten von SRF ganz nah ran, an die Schweizer Politik
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Sandra Niederberger hingegen wird per Ende Monat ihr Mandat als Landrätin ablegen. Aber in erster Linie nicht aus Politverdrossenheit, sondern weil sie in einen anderen Kanton umzieht, und zwar in eine grosse Stadt. Dort hätte sie die Chance als SP-Vertreterin aus der Minderheit in die Mehrheitsrolle zu schlüpfen? Niederberger winkt ab. Sie bleibt zwar SP-Mitglied, will aber vorerst kein Politmandat mehr annehmen.