Frau Merkel nahm es heute mit Humor, als Horst Seehofer ihr bei einem Treffen mit Vertretern von Migrantenverbänden den Handschlag verwehrte. So wie ihr wird es in den nächsten Tag vielen gehen. Denn das Bundesamt für Gesundheit empfiehlt, auf den Handschlag zu verzichten – als Vorsichtsmassnahme gegen die Ausbreitung des Coronavirus. Die Soziologin Katja Rost erklärt, was dieser Verzicht für eine Gesellschaft bedeutet.
SRF: Wie wichtig ist der Handschlag in unserem Alltag?
Katja Rost: Das Händeschütteln ist ein Begrüssungsritual, das bedeutet, dass wir Anstand besitzen. Wenn man jemanden trifft, dann gibt man sich – vor allem unter Fremden – die Hand. Dann gibt es natürlich Varianten, zum Beispiel wenn man sich näher kennt, gibt es eben die Küsschen.
Wieso brauchen wir solche Rituale?
So ein Ritual legt fest, dass immer wieder das Gleiche kommt. Das brauchen wir, um uns zu verständigen. Wenn ich in einen Raum komme, in eine Sitzung zum Beispiel, dann gebe ich erst einmal die Hand.
Wenn ich mich an die Empfehlung des BAG halte, verletze ich die soziale Norm der anständigen Begrüssung.
Das ist ein ungeschriebenes Gesetz, das kennt jeder. Wir brauchen diese Rituale, um Anstand zu zeigen und auch zu demonstrieren, dass man gut erzogen ist und weiss, was sich gehört.
Das Bundesamt für Gesundheit empfiehlt derzeit den Verzicht auf ebendiesen Handschlag. Was bedeutet der Verzicht für unsere Gesellschaft?
Für unsere Gesellschaft bedeutet das, dass Rituale ausser Kraft gesetzt werden. Durch die neue Empfehlung müssen wir uns von alten Gewohnheiten, von Anstandsnormen verabschieden und das stellt uns vor eine Herausforderung. Wir haben ein sogenanntes Koordinationsproblem: Wir wissen, wie eine Begrüssung zu funktionieren hat. Sobald jemand aber gegen diese Normen verstösst, haben wir ein Koordinationsproblem. Wenn ich mich an die Empfehlung des BAG halte, erfülle ich damit diese soziale Norm, verletze aber diejenige von der anständigen Begrüssung. Wir sind in einer Phase der Unsicherheit, wir wissen momentan nicht genau, wie wir uns begrüssen sollen.
Wie äussert sich diese Verunsicherung?
Man muss jetzt aushandeln, wie man sich begrüsst, wenn man sich begegnet – gehört man zu der Gruppe der Optimisten und gibt sich weiter die Hand oder gehört man zu den anderen, die die BAG-Empfehlung befolgen. Das Aushandeln macht man über kleine Symbole und Gesten.
In China sehen wir den sogenannten Fuss-Schlag.
Ich versuche zum Beispiel jemandem ein wenig die Hand entgegenzustrecken und beobachte, wie der andere reagiert. Oder ich beobachte, ob die- oder derjenige vorher schon jemandem die Hand gegeben hat. Wir versuchen damit einer peinlichen Situation aus dem Weg zu gehen.
Wie lang dauert diese Phase der Verunsicherung?
Es geht schnell, dass sich solche Rituale ändern. Wenn klar ist, dass die Gruppe der Pessimisten (also jene, die die BAG-Empfehlung befolgen) recht gross geworden ist, dann werden sich die meisten an diese neue Norm halten, um nicht sanktioniert zu werden. Um peinlichen Situationen zu entgehen.
Was gibt es denn jetzt in ihren Augen für Möglichkeiten zu begrüssen?
In China sehen wir zum Beispiel den sogenannten Fuss-Schlag. Man wird sehen, ob sich das hier durchsetzen kann. Das hat auch etwas Informelles, das macht man wohl eher nicht im Büro. Das einfachste ist, dass man es bei der verbalen Begrüssung belässt.
Das Gespräch führte Julia Bendlin.