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Mehr Medikamententests als gedacht
Aus Tagesschau vom 23.09.2019.
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Medikamententests an Patienten Viel mehr Betroffene als angenommen

In Münsterlingen wurden Medikamente an über 2700 Personen getestet. Drei Millionen Einzeldosen wurden geliefert.

Sein Name steht für die zahlreichen Medikamententests in Münsterlingen im Laufe des letzten Jahrhunderts: Roland Kuhn. Er war von 1939 bis 1980 als Arzt und Direktor in der psychiatrischen Klinik in Münsterlingen tätig.

Um die Wirkung von neuen Medikamenten nachzuweisen, testete er diese in Zusammenarbeit mit Schweizer Pharmafirmen an den Patienten – häufig ohne deren Wissen. Der Kanton Thurgau liess diese Medikamententests nun historisch aufarbeiten. Die Aufarbeitung unter Leitung der Historikerin Marietta Meier zeigt in einem fast 300-seitigen Buch die Ausmasse dieser klinischen Versuche.

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«Wir müssen uns bei den Betroffenen entschuldigen»
aus Echo der Zeit vom 23.09.2019. Bild: Staatsarchiv des Kantons Thurgau.
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Bislang ging man von rund 1600 Patienten aus, die Teil der Versuche gewesen sein könnten. Laut den Historikern waren jedoch mindestens 2789 Personen betroffen. Zudem gibt es eine hohe Dunkelziffer: Fälle, die nicht genau belegt sind, oder von denen keine Akten mehr vorhanden sind. Die tatsächliche Zahl Betroffener dürfte also noch höher liegen.

Zahlreiche Todesfälle

Sie alle erhielten Medikamente, die noch nicht zugelassen waren und deren Wirkung völlig unbekannt war. Teilweise hatten die Tests fatale psychische und physische Folgen. Laut den Historikern starben 36 Personen während oder kurz nach Verabreichung der Prüfsubstanzen.

Unklar ist allerdings, ob sie allein aufgrund der klinischen Versuche gestorben sind oder ob eine andere Ursache zum Tod führte. Über den gesamten Zeitraum lieferten die Schweizer Pharmafirmen mindestens drei Millionen Einzeldosen der Medikamente nach Münsterlingen.

Die Diskrepanz zwischen diesen riesigen Liefermengen und den namentlich bekannten Patienten ist gross.
Autor: Marietta Meier «Testfall Münsterlingen»

Roland Kuhn profitierte finanziell massgeblich von den Tests. Er erhielt mehrere Millionen Franken für die Versuche, die seinem Privatvermögen zugutekamen und von den Pharmaunternehmen bezahlt wurde.

Hochgerechnet auf das Preisniveau von 2015 gehen die Historikerinnen und Historiker von rund acht Millionen Franken aus.

Portrait Roland Kuhn.
Legende: Roland Kuhn entdeckte 1956 mit dem Wirkstoff Imipramin das erste Antidepressivum. NATURE/SRF

Aufsicht schaute weg

Die Aufsichtsbehörde sowie der Thurgauer Regierungsrat waren damals über die Medikamententests informiert. Die Behörden schauten allerdings nicht genau hin, denn die Klinik erhielt gratis Medikamentenlieferungen.

Laut den Historikern ging man davon aus, dass Forschung betrieben wurde, die erst noch das Medikamentenbudget senkte, und gab sich damit zufrieden.

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Auch an Walter Emmisberger wurden Medikamente getestet
aus Rendez-vous vom 23.09.2019.
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Die Vorgänge in Münsterlingen sind ausserordentlich gut dokumentiert. Dies hat auch mit der Persönlichkeit von Roland Kuhn zu tun. Zeitlebens fühlte er sein Schaffen als nicht genügend anerkannt. Er sammelte zahlreiche Akten und war darauf bedacht, dass die Nachwelt seine Forschung nicht vergisst.

Kurz vor dem Tod soll er sein Archiv nochmals bearbeitet und aus seiner Sicht wichtige Stellen rot angestrichen haben.

Schwierige Einordnung

Nach seinem Tod im Jahr 2005 gingen der Nachlass von Roland Kuhn ans Staatsarchiv über. Die Akten umfassen 45 Laufmeter und sind in 457 Schachteln verpackt. Fanden solche Tests nur in Münsterlingen statt? Oder war diese Praxis weit verbreitet in Schweizer Kliniken?

Ein Vergleich ist schwierig. Die Historiker gehen davon aus, dass auch in vielen weiteren Kliniken und Privatpraxen ähnliche Tests stattfanden. Allerdings ist dort wohl, im Gegensatz zu Münsterlingen, die Vergangenheit nicht so gut dokumentiert.

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Auf der Seeseite – Die Medikamentenversuche von Münsterlingen
Aus DOK vom 18.01.2018.
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Thurgauer Regierung bittet um Entschuldigung

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An einer Medienkonferenz hat Regierungspräsident Jakob Stark bei den Betroffenen um Entschuldigung gebeten. Die kantonalen Aufsichtsbehörden sowie die Pharmafirmen hätten es versäumt, einzugreifen. In Münsterlingen soll deshalb «ein thurgauisches Zeichen der Erinnerung» geschaffen werden. Dazu wurde ein Projektwettbewerb gestartet.

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