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Messerattacke in Lugano Gewaltforscher: «Kein klassischer Fall eines Terroranschlags»

Der Experte für Kriminalprävention Dirk Baier warnt davor, die Messerattacke in Lugano vorschnell als Terrorakt zu bezeichnen.

Diese Frau sei sicher keine typische Terroristin, die Messerattacke in Lugano sei kein klassischer Fall eines Terroranschlags gewesen, urteilt Gewaltforscher Dirk Baier. «Hier kommen einerseits ideologisch religiöse Momente und andererseits die psychische Krankheit zusammen. Beide sauber zu trennen, wird in der Aufarbeitung dieser Tat vielleicht gar nicht möglich sein.»

Die Frage der Zurechnungsfähigkeit

Viele Terroristen der Vergangenheit seien keine psychisch Kranken gewesen, sie seien jeweils als voll zurechnungsfähig verurteilt worden. Bei der 28-jährigen Täterin von Lugano liege der Fall wohl anders, mindestens müsse man aufgrund der Ermittlungen vor drei Jahren davon ausgehen, sagt Baier, der Professor für Kriminalprävention bei der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften ZHAW ist.

«Die Diagnose scheint eine psychische Akzentuierung oder Störung gewesen zu sein. Und nicht eine extreme Form von Radikalisierung. Weshalb man sie aus der Klinik entlassen hat, ohne dass das Fedpol informiert wurde – und auch ohne, dass sie wieder auffällig geworden ist.» Das bestätigt indirekt auch die Bundespolizei Fedpol. So wurde damals gegen die Frau wegen der versuchten Dschihad-Reise polizeilich ermittelt, ein Strafverfahren wurde jedoch nicht eingeleitet. Seit 2017 ist die Frau nicht mehr auf dem Radar der Bundespolizei.

Ob die Tat in Lugano geplant war oder völlig spontan, quasi aus dem Nichts verübt wurde, werde viel über das Motiv aussagen, sagt Baier: «Dass so etwas völlig aus dem Stegreif passiert, würde dafür sprechen, dass eine psychische Krankheit dahintersteckt. Dass man plötzlich Stimmen hört, die einem befehlen, zuzuschlagen. Ein Terrorakt passiert nicht einfach aus dem Stegreif heraus. Da sind Planungen und in der Regel auch Netzwerke dahinter – und zum Teil auch auslösende Momente.»

Nicht vorschnell als Terrorakt deklarieren

Auch ein Terrorakt könne natürlich spontan durchgeführt werden, das habe das Beispiel in Wien gezeigt. Dort gehe man davon aus, dass der Täter sich von den Behörden entdeckt wähnte und deshalb spontan zugeschlagen habe, sagt Baier. Bei der Tessiner Messerattacke stellen sich einen Tag nach der Tat für die Ermittler aber noch viele Fragen. War die Tat geplant? War die Frau Einzeltäterin oder hatte sie Komplizen? Und natürlich: Was war das Motiv?

Noch gibt es darauf keine Antworten. Gewaltforscher Baier warnt deshalb davor, die Tat in Lugano vorschnell als Terrorakt zu deklarieren. Denn dies spiele nur den Terroristen in die Hände. «Ziel des IS ist es, Angst zu verbreiten, dass man jederzeit und überall Opfer von Terrorismus werden kann.» So wollten Terrorgruppen wie der IS oder Al-Qaida gerne möglichst viele Attentate auf ihre Fahne schreiben, auch wenn die Taten aus anderen Motiven erfolgt seien, sagt Gewaltforscher Baier.

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Echo der Zeit, 25.11.2020, 18 Uhr

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