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Milizsystem Schweiz Pflegefachmann und Bäuerin: Das andere Leben der Parlamentarier

Wenn sie nicht im Parlament sitzen, stehen sie im Gerichtssaal, im Spital oder auf dem Eishockeyfeld: Schweizer Politikerinnen und Politiker führen auch ein Arbeitsleben. Klappt das?

Wie lässt sich ein Nationalratsamt mit einem Beruf vereinen? Wie beeinflusst der Beruf oder das Mandat die Politik? Sechs neue Gesichter im Nationalrat erzählen, wie sie Beruf und Politik unter einen Hut bringen – und wie weit es mit dem Milizgedanken noch her ist.

Vroni Thalmann, Bäuerin (SVP/LU)

Ob am Fadenmäher oder im Heukran: Vroni Thalmann hantiert gern mit grobem Gerät. «Als Bäuerin habe ich gelernt, anzupacken und nicht nur Hausarbeit zu erledigen», sagt die 55-Jährige. Genauso sehr interessiert sie sich aber auch für die Feinmechanik der Politik. Akten studieren, Allianzen schmieden und Mehrheiten schaffen, dies sind für die SVP-Nationalrätin spannende Aufgaben.

Keinesfalls möchte sie eines ihrer beiden Standbeine aufgeben. Der Luzernerin gefällt, dass sie ihre Erfahrungen als Bäuerin in die Politik einbringen kann – und gleichzeitig weiss sie, was die politischen Entscheide im Alltag bedeuten.

Im Parlament liegt ihr Schwerpunkt bei der Gesundheits- und Sozialpolitik. Natürlich habe ihre Arbeitsbelastung durch die Wahl in den Nationalrat zugenommen. Schliesslich führt Thalmann mit ihrem Mann seit vielen Jahren im Entlebuch einen Milchwirtschaftsbetrieb. Sie hat drei Kinder grossgezogen. Und sie ist in ihrer Heimatgemeinde Flühli als Sozialvorsteherin tätig.

All diesen Aufgaben will Vroni Thalmann gerecht werden: Dies gehe nicht ohne Abstriche. Ab und zu komme das Haushalten etwas zu kurz. Und noch häufiger der Schlaf. Nicht aber die Familie, die sei ihr besonders wichtig. Vroni Thalmann ist eine überzeugte Verfechterin des Milizsystems – trotz Mehrfachbelastung.

Raphaël Mahaim, Rechtsanwalt (Grüne/VD)

Der amtsjüngste Grüne im Parlament ist der 40-jährige Waadtländer Raphaël Mahaim. Seit gut zwei Jahren sitzt er im Parlament. Trotz seiner kurzen Amtsdauer ist er wohl der Schweizer Parlamentarier mit der grössten internationalen Publizität in den letzten Monaten. Denn er war einer der Anwältinnen und Anwälte, welche die Klimaseniorinnen vertraten und im April vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg recht erhielten.

Das Klimaurteil ist der grösste berufliche Erfolg von Mahaim als Anwalt. Doch hat er, seit er Nationalrat ist, überhaupt noch Zeit für seinen Beruf? «Einfach ist es nicht», gibt Mahaim zu, doch er sei sehr gern Anwalt, jetzt einfach nur noch zu 40 Prozent.

Anwälte hat es viele im Parlament, Mahaim aber ist der einzige Anwalt der Grünen. Gemäss der politologischen Plattform Defacto machen Anwältinnen und Anwälte 10.5 Prozent der Mitglieder des Nationalrats aus, knapp mehr als die ebenfalls stark vertretenen Landwirtinnen und Landwirte (10 Prozent).

Mahaims Fachgebiet ist das Umwelt- und das Raumplanungsrecht. Dieses Expertenwissen nütze ihm sehr bei seiner Arbeit als Nationalrat, ist Mahaim überzeugt. «Ich sehe, wo die Herausforderungen sind.» Er sitzt in der Rechts- und der Gerichtskommission. Im Milizsystem sei es zwar anspruchsvoll, alles unter einen Hut zu bekommen. Dafür könnten sich Politik und Beruf gegenseitig befruchten.

Heinz Theiler, Unternehmer (FDP/SZ)

Heinz Theiler führt einen Karosseriebetrieb in Goldau im Kanton Schwyz. Als Unternehmer ist der 53-Jährige Vertreter einer typischen Berufsgruppe: 27 Prozent der Parlamentsmitglieder sind laut der Plattform Defacto Unternehmerinnen oder Unternehmer, auch viele Landwirte gehören dazu.

Allerdings ist Theiler nur auf den ersten Blick ein typischer Vertreter. Heinz Theiler ist nämlich nicht Akademiker wie die Mehrheit im Parlament. Er hat eine Lehre im familieneigenen Betrieb gemacht und arbeitet noch regelmässig im Betrieb mit, legt ab und zu auch selber Hand an. «Auch in der Werkstatt zu arbeiten, ist nach wie vor wichtig für mich.» Entsprechend ist ihm die Förderung der Lehre ein Anliegen. In seinem Betrieb beschäftigt er neben fünf Mitarbeitenden noch zwei Lernende, beides Frauen.

Theilers Werdegang und Herkunft machen ihn deshalb zu einem ungewöhnlichen FDP-Nationalrat – er kennt die Probleme der «Büetzer» und der kleinen KMU. Genau die Anliegen dieser Gruppe will Theiler in den Nationalrat einbringen: «Ich möchte etwas dazu beitragen, Regulierungen und Bürokratie zu reduzieren.» Obwohl die Gesetzesvorlagen im Parlament oft juristisch und trocken erscheinen, möchte Theiler den realitätsnahen Blick nicht verlieren, die Bodenständigkeit beibehalten – auch wenn es ums Feilen der Gesetzestexte geht.

Yvonne Bürgin, Gemeindepräsidentin (die Mitte/ZH)

Ob Werkstatt, Wandelhalle oder Gemeindeversammlung: Yvonne Bürgin ist in ihrem Element. Die 53-jährige Mitte-Nationalrätin aus Rüti ist in ihrem Familienbetrieb für die Buchhaltung zuständig. In der Werkstatt entstehen Grabsteine oder neue Küchenabdeckungen.

Die Wahl hat ihren Alltag verändert. «Unser Betrieb ist klein, die Buchhaltung kann man irgendwann machen, in der Nacht oder am Sonntag», erklärt sie. Mit Finanzen hat sie nicht nur im Familienbetrieb zu tun, sondern auch in ihrem Amt als Gemeindepräsidentin.

Diese Erfahrungen versucht sie, im Nationalrat einfliessen zu lassen. «Man kann Entscheide in Bundesbern beeinflussen, die für die Gemeinden wichtig sind», sagt sie. Zum Beispiel, wie viele Betten für Asylsuchende zur Verfügung gestellt werden: Mache der Bund mehr, treffe es die Gemeinden weniger.

Bürgin rechnet für ihr Nationalratsamt einen Aufwand von etwa 50 Prozent, für das Gemeindepräsidium weitere 50 Prozent und dazu kommt noch die Buchhaltung für den Familienbetrieb. Das Milizsystem sei ihr wichtig, obwohl es nicht immer einfach sei, alles unter einen Hut zu bringen. «Man darf einfach den Kontakt zum Volk nicht verlieren», hält sie fest.

Patrick Hässig, Pflegefachmann (GLP/ZH)

Patrick Hässig arbeitet auf dem Kindernotfall im Stadtspital Zürich Triemli. Es geht hier darum, den Kindern möglichst rasch zu helfen und gut mit den Eltern zu kommunizieren. Der 45-jährige Hässig war früher ein bekannter Radiomoderator und liess sich ab 2017 zum Pflegefachmann ausbilden.

Dann startete er seine Politkarriere, die wie im Zeitraffer verlief: Zwei Jahre im Zürcher Stadtparlament, eines davon war er parallel auch Kantonsrat, im letzten Herbst dann die überraschende Wahl in den Nationalrat, obwohl seine Partei nicht zu den Gewinnerinnen der Wahlen gehörte. Er ist einer von zwei Pflegefachleuten im Parlament. «Man ist neugierig darauf, was ich von der Arbeit mit Patienten berichte.»

Für Hässig war immer klar, dass er weiter im Spital arbeiten wollte. Und eigentlich sollten es mehr sein als die 30 Prozent, die er jetzt noch angestellt ist. Aber Hässig stellte ziemlich rasch fest: «Wenn ich die Arbeit im Parlament richtig machen will, braucht es mehr Zeit.» Jetzt sei es halt ein bisschen ein Jonglieren, aber es lohne sich, sagt Hässig. Seine Perspektive, die er als Pflegefachmann mitbringe, werde im Bundesbern geschätzt.

Andrea Zryd, Spitzensport-Trainerin (SP/BE)

«Zieh, zieh, zieh!» Andrea Zryd feuert ihre Trainingsgruppe an. Es sind Mitglieder der Eishockey-Nationalmannschaft, die zwischen farbigen Markierungen durch die Turnhalle hetzen und so ihre Schnelligkeit verbessern.

Die 48-jährige Zryd ist ausgebildete Sportlehrerin und Spitzensport-Trainerin. Ihre Schützlinge sollen für die Schweiz Titel und Medaillen an internationalen Wettkämpfen gewinnen und absolvieren die Sportler-RS oder den WK in Magglingen. Andrea Zryd hat ihre Leidenschaft, den Sport, zum Beruf gemacht. Gleichzeitig ist sie schon sehr lange politisch aktiv: zuerst 15 Jahre im Berner Kantonsparlament, seit einem halben Jahr nun im Nationalrat.

Sport und Politik hätten viele Gemeinsamkeiten, ist sie überzeugt: «Man muss aufs Individuum eingehen und dabei flexibel und agil bleiben.» Und sie fügt an: «Ich will gewinnen – sei’s im Sport oder in der Politik.» Zryd ist auch Mutter von zwei schulpflichtigen Kindern, sie muss ihre Zeit gut einteilen. Ihren Beruf zugunsten der Politik aufzugeben, kommt für sie nicht in Frage. Beruf und Politik seien bei ihr gleichwertig: «Ich denke, man bleibt so auch an der Basis, man ist nahe am Menschen und hört auch die Probleme.» Umso wichtiger ist die gute Organisation, um Familie, Job und Politik unter einen Hut zu bringen – um das Milizsystem leben zu können.

Tagesschau, 10.08.2024, 19:30 Uhr;stal

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