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Missbräuche durch Kirchenleute Ist der Kirchenaustritt die letzte Massnahme?

Es brodelt in der römisch-katholischen Kirche, seit bekannt wurde, dass es seit 1950 zu über 1000 sexuellen Missbrauchsfällen gekommen ist. Seither steht die Vermutung im Raum, die Kirchenaustritte könnten steigen. Urs Winter kennt die Zahlen der letzten Jahre und die Gründe.

Urs Winter

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Urs Winter hat in Luzern und Freiburg katholische Theologie studiert. Es folgte ein Zweitstudium in klinischer Psychologie. Es folgten einige Jahre Tätigkeit als Seelsorger im Aargau und St. Gallen. Winter ist zuständig für die Kirchenstatistik beim Schweizerischen Pastoralsoziologischen Institut. Dieses beobachtet die katholische Kirche und wird auch von ihr finanziert.

SRF News: Welche Rolle spielen sexuelle Übergriffe bei der Entscheidung, die Kirche zu verlassen?

Urs Winter: Die Ergebnisse der Studie waren sicher ein sehr einschneidendes Ereignis. Sehr viele Kirchenmitglieder sind erschrocken, waren enttäuscht, wütend. Und es sind dann häufig solche Anlässe, die jemanden dazu bewegen, sich zu sagen: «Mit dieser Organisation, mit dieser Kirche möchte ich nichts mehr zu tun haben.» Daher gehen wir davon aus, dass die Austrittszahlen steigen werden.

Mit welchen Zahlen rechnen Sie?

Das können wir noch nicht sagen. Man tritt ja bei einer Kirchgemeinde aus. Es dauert dann immer eine längere Zeit, bis diese Daten gesammelt sind und an einer zentralen Stelle eintreffen. In Deutschland wurden letztes Jahr auch Berichte über Missbräuche in der katholischen Kirche publik. Dort stiegen die Austrittszahlen stark. Also gehen wir auch in der Schweiz davon aus.

Ein Kirchenaustritt geschieht ja nicht sofort, sondern hat oft eine längere Vorgeschichte.

Eine Austrittswelle.

Ich weiss nicht, ob ich Welle sagen kann. Ein Kirchenaustritt geschieht ja nicht sofort, sondern hat oft eine längere Vorgeschichte. Dahinter stehen Fragen wie: «Möchte ich überhaupt noch zu dieser Kirche gehören? Kann ich mich in dieser Kirche, ihren Werten, ihren politischen Einstellungen, ihren gesellschaftlichen Haltungen zu Themen am Anfang oder am Ende des Lebens wiederfinden?» Und wenn ich merke, dass mir das eigentlich gar nichts sagt, wenn ich anderer Meinung bin oder mir Gleichstellung ganz wichtig ist und ich sehe, die Kirche lebt das anders, dann führt das zu einer fortlaufenden Distanzierung. Kommt ein punktuelles Ereignis wie dieser Bericht hinzu, dann ist das der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Und dann treten sehr viele aus.

Über die Gründe für den Kirchenaustritt

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Laut Urs Winter zeigen Befragungen ehemaliger Mitglieder der katholischen Kirche von 2019, dass circa ein Drittel der Befragten mit den öffentlichen Stellungnahmen der katholischen Kirche nicht einverstanden war. «Das können politische Engagements sein, beispielsweise bei der Konzernverantwortungsinitiative.» Es habe dort Personen gegeben, die nicht wollten, dass sich die Kirche in die Tagespolitik einmischt. «Aber es geht natürlich auch um Themen wie gleichgeschlechtliche Ehe, assistierter Suizid.» Dort geschehe der Austritt, weil die Werte der Kirche und die politischen oder auch persönlichen oder ideellen Werte sich nicht mehr mit jenen der Kirche decken würden, in der die betroffene Person Mitglied ist.

Weiter können auch finanzielle Gründe zu einem Kirchenaustritt führen. «Aber es sind wirklich diese zwei grossen Bündel an Gründen: die persönlichen Werte, die persönliche Einstellung sowie die persönliche Religiosität.» So würden circa 15 Prozent der Befragten sagen, dass sie den Glauben verloren haben und darum ausgetreten sind. Das seien vor allem ältere Personen. «Und da stelle ich mir dann die Frage: Sind es so negative Ereignisse? Sind es solche Berichte, im schlimmsten Fall sogar eigene persönliche Erfahrungen, auch negative Erfahrungen mit Menschen, die in der Kirche arbeiten, die dazu führen, dass man den Glauben verliert und dann sagt, ich möchte nichts mehr mit dieser Kirche zu tun haben?» Weitere 15 Prozent geben laut Winter an, dass sie gar nie einen Glauben gehabt haben. «Das ist insbesondere bei jüngeren Menschen so.» Denn diese fänden weniger leicht einen Zugang zur Kirche, denn die kirchliche Sozialisation sei heute eine ganz andere.

«Und dann geschieht es auch, dass jemand den Grund gar nicht angeben will. Zum Beispiel eine andere Religionsgemeinschaft sagt mir mehr zu oder ich erlebe Konflikte zwischen den Religionen. Oder ich bin grundsätzlich gegen Kirche und Religion oder ich möchte meinen Glauben ausserhalb einer Kirche ausleben. Dann gibt es auch noch ganz, ganz viele andere Gründe und häufig ist es eine Mischung von vielen.»

Man hört aber auch, dass die Kirche Gutes bewirkt. Kann sie damit die Leute nicht überzeugen, zu bleiben?

Ich denke, ihr sozial-diakonisches Engagement hält ganz viele Menschen weiterhin in der Kirche – sie kümmert sich um bedrängte Menschen, engagiert sich in der Spital-, Gefängnis- und Flüchtlingsseelsorge, organisiert Mittagstische und Seniorennachmittage. Auch wenn man das selber gar nicht braucht, gibt es vielen die Motivation, Mitglied zu bleiben. Dann gibt es noch den Aspekt des Erhalts unseres Kulturguts. Auch das hält Menschen.

Es gibt den Slogan ‹In der Kirche auftreten statt austreten›. Ich denke, es gibt Menschen, denen ist das zu viel. Sie distanzieren sich von dieser Glaubensgemeinschaft.

Ist ein Austritt die einzige Möglichkeit, als Mitglied der katholischen Kirche seinen Unmut auszudrücken?

Es gibt den Slogan «In der Kirche auftreten statt austreten». Ich denke, es gibt Menschen, denen ist das zu viel. Sie distanzieren sich von dieser Glaubensgemeinschaft. Sie fühlen sich nicht mehr getragen von ihr. Und dann kommt es zum Bruch. Und es gibt Menschen, die sagen: «Mir ist die Kirche ein Herzensanliegen. Was diese Kirche im Grunde vertritt, ihre Botschaft, ist mir wichtig. Und ich engagiere mich jetzt und versuche mitzugestalten, dass wir eine bessere Kirche werden, dass wir noch mehr zu einer Kirche werden, die hinzielt auf eine solidarische, gerechtere, brüderliche, schwesterliche Welt.» Aber das kann man wahrscheinlich nicht in allen Bereichen. Es gibt Bereiche, die sind einem persönlich wichtiger und dort kann oder will man sich engagieren. Und in anderen Bereichen reicht dann vielleicht die Kraft nicht.

Das Gespräch führte Yves Kilchör.

HeuteMorgen, 21.09.2023, 7:09 Uhr ; 

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