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Oxycodon & Co. – zum Schmerzmittel aus dem Darknet mit wenigen Klicks
Aus Impact Investigativ vom 08.03.2023.
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Missbrauch von Medikamenten Mit wenigen Klicks zum Opioid-Kick

Oxycodon, Tilidin, Codein: Opioidhaltige Medikamente werden als Rauschmittel missbraucht. Die Zahl junger Abhängiger nimmt in der Schweiz zu – und die Pillen sind nur mit ein paar Klicks bestellt, wie die Recherche von SRF Investigativ zeigt.

«Von 20 Personen, die Opioide konsumiert haben, ist mittlerweile eine clean. Die anderen 19 sind alle abhängig.» Laurin knetet unruhig seine Finger. Sein Blick huscht beim Sprechen nervös umher.

Im Alter von 14 Jahren bestellt er seine erste Oxycontin-Tablette im Darknet. Sie enthält Oxycodon, einen opioidhaltigen Wirkstoff. Die Pille zählt zu den stärksten Schmerzmitteln, die auf dem Markt erhältlich sind. Er zermörsert die Pille und schnupft sie: «Ein überwältigendes Gefühl der Euphorie», wie er heute sagt. Laurin beginnt regelmässig zu konsumieren, erst nur am Wochenende, dann häufiger. Als er nach den Schulferien zurück im Schulzimmer des Gymnasiums sitzt, hat er körperliche Entzugserscheinungen. Der Beginn eines Teufelskreises, den lange niemand bemerkt.

Junger Mann vor Schulhaus
Legende: Laurin (Name geändert) begann in der Schulzeit opioidhaltige Schmerzmitteln auszuprobieren. Erst nur am Wochenende zu Rauschzwecken, am Ende täglich. SRF

Heute, mit 21 Jahren, ist Laurin zwar in Behandlung, die Opioidabhängigkeit begleitet ihn aber immer noch.

Vom Experiment zur Abhängigkeit

Laurin ist kein Einzelfall: Jugendliche und junge Erwachsene greifen heute häufiger zu opioidhaltigen Schmerzmitteln. Und die Zahl der jungen Abhängigen steigt. Das zeigen neue Auswertungen der Arud, dem grössten Zentrum für Suchtmedizin der Schweiz.

Wir sehen eine vier- bis sechsfache Zunahme von Opioidabhängigen unter 25 Jahren.
Autor: Thilo Beck Co-Chefpsychiater arud

«Wir haben eine interne Auswertung gemacht der letzten zehn Jahre, wie viele neue Menschen sich bei uns wegen einer Opioidabhängigkeit melden», sagt Thilo Beck, Co-Chefpsychiater der Arud. «In den letzten fünf Jahren zeigt sich plötzlich eine dramatische Zunahme von jungen Menschen unter 25 und unter 20 Jahren.» Die Auswertung habe eine vier- bis sechsfache Zunahme von Opioidabhängigen in diesen Altersgruppen ergeben.

Oxycodon, Heroin, Fentanyl: Was sind Opioide?

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Opioide sind eine Gruppe von Substanzen mit morphinartigen Wirkstoffen. Sie wirken auf den Körper und die Psyche und haben eine stark betäubende und euphorisierende Wirkung.

Morphin und Codein etwa sind natürliche Substanzen, die aus dem Schlafmohn gewonnen werden. Es gibt daneben aber auch teilsynthetisch und synthetisch hergestelle Opioide: Das wohl bekannteste Beispiel ist Heroin.

Andere Opioide sind Fentanyl, Methadon, Tramadol, Tilidin oder Oxycodon. Es gibt stark wirksame und schwach wirksame Opioide.

Opioide hemmen gezielt die Schmerzübertragung, insbesondere im Hirn und dem Rückenmark. In der Medizin kommen sie bei akuten und chronischen Schmerzen zum Einsatz, etwa bei Krebserkrankungen.

Opioide haben ein starkes Abhängigkeitspotenzial. Schon nach wenigen Tagen bis Wochen besteht die Gefahr einer Abhängigkeit.

Dieser Trend sei neu, sagt Beck. Bisher waren die Menschen mit einer Opioidabhängigkeit bei der Arud als eine Gruppe älterer Konsumierender zu verorten, die mit Heroin in den 1990er-Jahren zu Platzspitzzeiten begonnen hatten. «Die jungen Konsumentinnen und Konsumenten kommen auf eine andere Weise damit in Berührung. Sie greifen als Erstes zu opioidhaltigen Schmerzmitteln», führt der Psychiater aus.

Es sind oft sehr beeindruckende Fälle schwerkranker Patienten.
Autor: Marc Vogel Chefarzt am Zentrum für Abhängigkeitserkrankungen der UPK

Auch andere psychiatrische Institutionen in der Schweiz bemerken eine Häufung von Opioidabhängigkeiten in dieser Altersgruppe. «Wir sehen ganz klar eine Steigerung bei jüngeren Patienten, die Opioide primär nutzen, um sich zu berauschen», sagt Marc Vogel, Chefarzt am Zentrum für Abhängigkeitserkrankungen der Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) in Basel. Sie würden zwar nicht überrannt, so Vogel, «es sind aber oft sehr beeindruckende Fälle schwerkranker Patienten.»

Rund jeder sechste 20-Jährige konsumiert Codein

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Unter jungen Erwachsenen ist der Konsum von opioidhaltigen Schmerzmitteln nichts Ungewöhnliches. Eine grosse Studie im Raum Zürich kommt zum Schluss: Jede 6. befragte 20-jährige Person hat schon Opioide zu Rauschzwecken konsumiert, hauptsächlich Hustenmittel wie Codein.

Die Schwere - und vor allem das junge Alter - gewisser Fälle beunruhigt auch Elvira Tini, Oberärztin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (KJPP) in Zürich. «Im Jahr 2022 hatten wir mindestens zwei Fälle von unter 16-Jährigen. Diese haben uns zu denken gegeben.» So junge Menschen mit einer starken Opioidabhängigkeit seien zuvor nicht bei ihnen behandelt worden. Das KJPP hat deshalb eine kleine Taskforce innerhalb der psychiatrischen Universitätsklinik Zürich gegründet, um auf die komplexen Abhängigkeiten der Jugendlichen vorbereitet zu sein.

Je jünger die Jugendlichen seien, desto unerfahrener und entsprechend labiler seien ihre Patientinnen und Patienten. «Die Jugendlichen experimentieren mit starken Schmerz- und Hustenmitteln, es ist ein Ausprobieren», sagt Elvira Tini. Und ist die Neugier erst einmal da, ist es nicht schwer, opioidhaltige Schmerzmittel zu erwerben, zeigt der Versuch von SRF Investigativ.

Einen Klick von der Pille entfernt

Wie Laurin bestellt heute laut einer Umfrage des Drogeninformationszentrums Zürich (DIZ) jeder achte Konsumierende Drogen im Internet. Die Dealer werben mit einem breiten Angebot auf den entsprechenden Chatgruppen und Marktplätzen.

Täuschend echt: Gefälschte Blister und Beipackzettel

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Viele Konsumierende, die Schmerzmittel aus dem Darknet bestellen, wiegen sich in falscher Sicherheit. Laut Dominique Schori von Saferparty Streetwork werden Käuferinnen und Käufer von Schmerzmitteln aus dem Darknet oder aus Chatgruppen nicht weniger häufig getäuscht als Konsumierende anderer Rauschmittel: «Es werden auch Pillen-Blister und Beipackzettel nachgemacht, es gibt täuschend echte Fälschungen.» Die seien von blossem Auge nicht zu unterscheiden.

Auf verschiedenen Plattformen im Darknet werden starke Schmerzmittel wie Oxycodon verkauft. Man findet daneben auch schwächere Opioide wie Codein-Hustensirup und Tramadol. Es gibt Verkäufer, welche die Medikamente innerhalb der Schweiz ausliefern. Damit entfällt das Risiko, dass die Schmerzmittel vom Zoll abgefangen werden. Auch auf Telegram und Signal, verschlüsselte Messengerdiensten, findet man diverse Shops, die Opioide verkaufen.

Laptop mit Darknet-Seite
Legende: Für den Versuch werden über Marktplätze im Darknet opioidhaltige Schmerzmittel bestellt und nach Hause bestellt. SRF

Um herauszufinden, wie leicht erhältlich und wie rein die opioidhaltigen Schmerzmittel aus dem Darknet sind, bestellte SRF Investigativ drei Proben in Kleinstmengen: eine Oxycodon-Pille, Morphin und Methadon. Anschliessend wurden die Proben im Labor auf die enthaltenen Wirkstoffe getestet. Es kamen jedoch nicht alle Bestellungen an: Weitere Deals über Telegram platzten - es steckten Betrüger dahinter.

Der Test macht deutlich: Opioidhaltige Schmerzmittel zu bestellen ist einfach, wenn man die entsprechenden Kanäle kennt. Bei Angeboten auf Messengerdiensten, bei denen man im Voraus bezahlen muss, besteht eine gewisse Betrugsgefahr. Die von SRF Investigativ bestellten Substanzen aus dem Darknet waren jedoch rein und richtig deklariert.

Pillen auf schwarzer Fläche
Legende: Opioidhaltige Schmerzmittel waren mit wenigen Klicks bestellbar: Oxycodon, Methadon, Morphin. SRF

Schmerzmittel statt Speed

Doch nicht nur die einfache Verfügbarkeit und Neugier sind Treiber des neuen Opioid-Trends bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Viele würden auch zu Opioiden greifen, um seelische Schmerzen zu lindern. «Die letzten Jahre waren besonders schwierig für die Jugendlichen», sagt Elvira Tini vom KJPD.

Dass es den Jungen in der Schweiz schlechter geht, hält auch Psychiater Thilo Beck für einen naheliegenden Grund, warum junge Menschen öfter zu Opioiden greifen. «Viele Studien zeigen, dass sich der Gesundheitszustand von jungen Menschen verschlechtert hat. Die Jungen fangen an, sich mit Medikamentenversuchen besser einzustellen, auszuhalten, was sie erleben», sagt Beck.

Mischkonsum: «Ein Rezept, wie man sich umbringen kann»

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Die Altersgruppe der unter 25-Jährigen sei typischerweise sehr experimentierfreudig, sagt Thilo Beck von der Arud. «Viele Jugendliche wissen gar nicht, dass sie sich mit opioidhaltigen Schmerzmitteln alleine schon umbringen können, wenn sie es nicht gewohnt sind.»

Wenn man nun aber Opioide im Mischkonsum einnehme, steige das Risiko um ein Vielfaches: «Wenn man opioidhaltige Schmerzmittel mit anderen beruhigenden Substanzen wie Alkohol oder Benzodiazepinen wie Xanax oder Valium kombiniert, steigt das Risiko um ein Mehrfaches.» Das sei wie ein Rezept, um sich umzubringen, so Beck. Am Mischkonsum sind seit 2018 in der Schweiz mindestens 35 junge Menschen gestorben.

Der Mischkonsum ist nicht selten: In einer Befragung der Uni Zürich wurden junge Erwachsene gefragt, welche Substanzen sie am meist bis dritt meisten mischen: 32 Prozent der Erwachsenen gab dabei starke Schmerz und Hustenmittel an.

Generationenübergreifend wird seit jeher in der Adoleszenz mit Drogen und Substanzen experimentiert. Griffen die jungen Erwachsenen aber in den 1970er-Jahren tendenziell eher zu psychedelischen Drogen wie LSD und in den Nullerjahren zu leistungssteigernden Amphetaminen und Kokain, ist der Drogenmix der Wahl heutzutage ein betäubender. «Wir sehen bei den Jungen einen Trend in Richtung Leistungsverweigerung», sagt Beck. Aufputschende Stimulanzien weichen sedierenden, beruhigenden und angstlösenden Medikamenten für erste Rauscherfahrungen.

Opioid-Verkäufe in der Schweiz stark gestiegen

Opioide werden in der Schweiz aber nicht nur zu Rauschzwecken häufiger verwendet. In 20 Jahren haben hierzulande die Verkäufe von Opioiden für den medizinischen Gebrauch, besonders von hochpotenten Opioiden, stark zugenommen. Heute werden gesamthaft über sechsmal mehr Packungen starker Opioide ausgegeben als noch im Jahr 2000. Zählt man auch die schwachen Opioide dazu, haben sich die Verkaufszahlen der verkauften Einheiten pro 100'000 Einwohner fast verdoppelt, kommt eine Studie der ETH Zürich zum Schluss.

In der Medizin werden Opioide insbesondere bei akuten und chronischen Schmerzen, zum Beispiel in der Notfallmedizin und bei Krebserkrankungen, eingesetzt. Opioidhaltige Schmerzmittel sind in der Schweiz dem Betäubungsmittelgesetz unterstellt. Ärztinnen und Ärzte sowie Apotheken müssen über deren Ausgabe Buch führen.

Wie viele Schmerzpatientinnen und Schmerzpatienten durch eine medizinische Behandlung mit Opioiden abhängig werden, ist zurzeit unklar. Die Stiftung Sucht Schweiz hält im Suchtpanorama 2023 fest: «Bei den opioidhaltigen Schmerzmitteln fehlen aktuelle Zahlen zur Einnahme oder gar zu Abhängigkeit.» Es brauche dringend eine engere epidemiologische Überwachung des Konsums und mehr Forschung.

Der lange Schatten der Abhängigkeit

Ob durch ein verschriebenes Rezept oder durch den Konsum als Rauschmittel: Geschichten wie Laurins veranschaulichen, wie schwierig es sein kann, sich dem Sog einer Opioidabhängigkeit zu entziehen. Er träumt von einem Leben ohne Opioide. Dort angekommen, ist er noch nicht.

Junger Mann sitzt da vor seinem Schatten
Legende: Laurin befindet sich heute im Diaphinprogramm, erhält pharmazeutisches Heroin unter ärztlicher Betreuung. Er möchte einen Opioid-Entzug machen, sobald seine Ausbildung abgeschlossen ist. SRF

Ob Laurin rückblickend nochmals Oxycodon nehmen würde? Er unterdrückt ein Lachen. «Gute Frage. Mit all den Konsequenzen, die ich gehabt habe: Nein, definitiv nein. Ich würde es nicht nochmals nehmen», sagt Laurin und schüttelt den Kopf. Den Blick hält er fest auf seine Hände gerichtet.

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Mit wenigen Klicks zu Opioiden
Aus 10 vor 10 vom 10.03.2023.
abspielen. Laufzeit 4 Minuten 53 Sekunden.

10 vor 10, 10.03.2022, 21:50 Uhr

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