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Missbrauchsfälle Vernichtete die katholische Kirche systematisch Akten?

Die katholische Kirche will erstmals Missbrauchsfälle auf nationaler Ebene untersuchen lassen. Doch die Aktenlage dürfte schlecht sein, denn Fälle wurden in der Vergangenheit kaum dokumentiert und Akten sollten vernichtet werden.

Albin Reichmuth war neun Jahre alt, als sich der Dorfpfarrer 1956 das erste Mal an ihm vergriff: «Kurz nach der Erstkommunion wurde ich Ministrant. Nach einem Ministrantendienst sagte mir der Pfarrer, ich solle noch bleiben. Dann schloss er die Tür der Sakristei ab und sagte mir, er müsse mich aufklären.»

Was folgte, waren sexuelle Übergriffe, während rund fünf Jahren: «Der Dorfpfarrer rief meine Mutter fast wöchentlich an und sagte ihr, ich hätte noch etwas für die Pfarrei zu erledigen. Danach führte mich der Pfarrer oft in einen Raum, schloss ihn ab und missbrauchte mich. Ich verdrängte die Übergriffe jahrzehntelang.»

Keine Konsequenzen für den Täter

Der Täter war Dorfpfarrer in Trimbach im Kanton Solothurn. Albin Reichmuth war nicht sein einziges Opfer. «Nachdem ich mich 2018 an die Kirchgemeinde wandte, publizierte diese einen Aufruf, dass sich weitere Opfer melden sollen.» Acht weitere Opfer beziehungsweise Angehörige von verstorbenen Opfern des Dorfpfarrers meldeten sich beim Kirchgemeindepräsidenten.

Foto von einem Jungen, der ministriert.
Legende: Ministrant Albin Reichmuth wurde über fünf Jahre lang vom Dorfpfarrer missbraucht. privat

Doch aktenkundig wurde bis zur Meldung von Albin Reichmuth kein einziger der Übergriffe, das bestätigt das zuständige Bistum Basel gegenüber SRF.

Brisant: Albin Reichmuth konnte inzwischen in Erfahrung bringen, dass ein pensionierter Pfarrer aus der Region wusste, dass der Dorfpfarrer von Trimbach Kinder sexuell missbrauchte. Doch dieser meldete bis zu seinem Tod diese Vorfälle an keine Stelle weiter. «Die Katholische Kirche war eine Männervereinigung der Verschwiegenheit, niemand wollte die Institution in Verruf bringen», sagt Albin Reichmuth.

«Kirche wollte in der Vergangenheit keine Fälle aufklären»

Stefan Loppacher ist Experte für Kirchenrecht, arbeitet im Bistum Chur als Präventionsbeauftragter und forschte zum Thema sexuelle Ausbeutung und kirchliche Strafverfahren. Er bestätigt Albin Reichmuths Einschätzung, wonach die Kirche in der Vergangenheit keine Fälle aufklären wollte: «Bis in die späten 90er-Jahre wurden Täter weder angezeigt, noch führte die Kirche eigene Strafverfahren. Missbrauchstäter wurden normalerweise versetzt. So kam es zu weiteren Übergriffen am neuen Ort. Das oberste Ziel der Kirche war nicht die Aufklärung von Missbräuchen, sondern deren Vertuschung.»

Doch es gibt einen Ort, an dem Akten von Missbrauchstätern zu finden sein sollten: im Geheimarchiv. Laut dem Codex des Kanonischen Rechtes, Artikel 489, muss es in der Diözesankurie ein Geheimarchiv geben. In ihm sollen «geheim zu haltende Dokumente» aufbewahrt werden. Auch Akten von Missbrauchsfällen gehören dazu.

Doch in Absatz zwei des Artikels steht: «Jährlich sind die Akten der Strafsachen in Sittlichkeitsverfahren, deren Angeklagte verstorben sind oder die seit einem Jahrzehnt durch Verurteilung abgeschlossen sind, zu vernichten; ein kurzer Tatbestandsbericht mit dem Wortlaut des Endurteils ist aufzubewahren.»

«Gesetzesartikel muss revidiert werden»

Vernichtet die Kirche systematisch Missbrauchsakten? Stefan Loppacher geht davon aus, dass in der Vergangenheit entsprechende Akten tatsächlich vernichtet wurden, wenn man denn überhaupt ein Verfahren geführt und Akten produziert hat. «Für mich ist klar: Dieser Gesetzesartikel müsste zwingend revidiert werden, er erschwert unnötig die Aufklärung verjährter Fälle sowie die Aufarbeitung der Vergangenheit.»

Trotz Aktenvernichtung und Vertuschung: Für den Bischof von Chur, Joseph Bonnemain, ist es wichtig, dass die Thematik Missbrauch jetzt auf nationaler Ebene untersucht wird.

Und Bonnemain hält fest: «Seit 1990 war ich als Offizial oberster Verantwortlicher für das kirchliche Gericht im Bistum und die Verantwortung für das Geheimarchiv lag bei mir. In dieser Zeit habe ich keine Akten vernichtet. Ob zu einem früheren Zeitpunkt gemäss Vorgaben im Bistum Chur Akten vernichtet worden sind, weiss ich nicht.»

Albin Reichmuth konnte erst 50 Jahre nach dem erlebten Missbrauch das erste Mal darüber sprechen. Inzwischen hat er seinen Frieden gefunden, «dank intensiven Gesprächen und dem Aufschreiben des Erlebten». Er hat danach die erste Selbsthilfegruppe in der Deutschschweiz gegründet. Mit Hilfe weiterer Unterstützerinnen und Unterstützern ist kürzlich auch die «Interessengemeinschaft für Missbrauchsbetroffene im kirchlichen Umfeld» entstanden.

10 vor 10, 02.12.2021, 21:50 Uhr

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