Bahnhofsunterführung St. Gallen, mitten im Pendlerstrom: Ich habe einem Polizisten der Stadtpolizei ein altes Foto von mir geschickt – damals ohne Bart, mit Brille. Heute trage ich eine Kappe und Kontaktlinsen. Mein Ziel: herausfinden, ob er mich trotzdem erkennt.
Die Antwort folgt schnell. «Sie sind mir sofort aufgefallen», sagt der Super-Recognizer, der anonym bleiben will. «Mein Blick bleibt einfach hängen, dann weiss ich: Das ist er.»
Der Begriff «Super-Recognizer» klingt sperrig. Die Kantonspolizei St. Gallen beschreibt damit Menschen, die sich Gesichter besonders gut einprägen können – auch nach Jahren oder bei schlechter Bildqualität.
Seit einem Jahr setzen die St. Galler Stadt- und die Kantonspolizei auf dieses Talent. Acht speziell ausgewählte Polizistinnen und Polizisten unterstützen bei Fahndungen und möglichen Seriendelikten. Im Pilotprojekt haben sie bereits 300 Hinweise auf mutmassliche Täter geliefert. In 60 Prozent der Fälle führten diese zu einem Geständnis.
Wie wird man Super-Recognizer?
«Wir mussten einen Test am Computer machen, der etwa eineinhalb Stunden gedauert hat», erklärt der Polizist. «Ich wusste vorher schon, dass ich Gesichter gut erkenne.»
Im Alltag arbeiten Super-Recognizer oft im Hintergrund. «Wir stehen an Orten mit vielen Menschen, etwa beim Bahnhof oder an Grossveranstaltungen wie Fussballspielen.» Zum Beispiel bei Spielen des FC St. Gallen. «Wir suchen dort Personen, die im Vorfeld Straftaten begangen haben – etwa bei einem früheren Spiel oder bei Ausschreitungen im Umfeld des Stadions», erklärt der Polizist. Werden solche Personen erkannt, schreitet die Polizei gezielt ein.
Zur Vorbereitung erhalten die Erkennungskünstler Fotos oder Überwachungsbilder. «Je länger ich mich einlesen kann, desto sicherer erkenne ich sie später im Einsatz.»
Manchmal fällt mir auch eine auffällige Bewegung auf oder ein Detail wie ein Nagelbett.
Manchmal komme es sogar im Privatleben zu Begegnungen. «Ich war in der Stadt unterwegs und habe jemanden erkannt, der auf einer Fahndungsliste stand. Ich bin ihm nachgerannt», erzählt er.
Doch es sind nicht nur Gesichter, auf die sie achten. Auch Haltung, Gestik und Mimik spielen dabei eine Rolle. «Manchmal fällt mir auch eine auffällige Bewegung auf oder ein Detail wie ein Nagelbett», sagt er.
Mensch schlägt Maschine bei Gesichtserkennung
Computer könnten theoretisch ähnliche Aufgaben übernehmen. Doch laut der Kantonspolizei liegt die Fehlerquote bei den menschlichen Super-Recognizern bei nur drei Prozent. «Gesichtserkennungssoftware ist rechtlich heikel und meines Wissens technisch noch nicht so weit entwickelt wie wir Menschen», sagt der Polizist.
Auch Florian Schneider, Mediensprecher der Kantonspolizei St. Gallen, betont die besondere Fähigkeit: «Super-Recognizer erkennen sogar unbekannte Personen – selbst bei schlechter Bildqualität oder wenn eine Person zwischen zwei Aufnahmen stark gealtert ist.»
Wegen des Erfolgs im Pilotjahr sollen künftig noch mehr Super-Recognizer im Einsatz sein. Die Kantonspolizei St. Gallen ist überzeugt, dass sie auch künftig dabei helfen können, Straftäter zu identifizieren. Für den Polizisten ist es eine spannende Aufgabe. «Ich finde es cool, Super-Recognizer zu sein.»