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Nach dem Abstimmungssonntag Unsere Verfassung ist dauernd in Bewegung – trotz Ständemehr

Gross ist die Empörung über dieses Ständemehr, jetzt, wo die Konzerninitiative zwar eine Volks-, aber keine Kantonsmehrheit fand. Abschaffen müsse man das Ständemehr, subito. Es gehöre auf die Müllhalde der Geschichte. Üblicherweise wollen solche Hürden aber nur jene abschaffen, die sich im Augenblick daran gestossen haben. Dabei sind Sperrminoritäten ein übliches Mittel des politischen Ausgleichs.

Das Ständemehr muss erreicht werden, wenn eine Verfassungsänderung angestrebt wird – also bei Volksinitiativen und bei obligatorischen Referenden. Das macht klar, weshalb mit Volks- und Ständemehr die Hürde etwas höher liegt, weshalb es eine doppelte Hürde gibt: Das Umschreiben der Verfassung ist ein wesentlicher Eingriff in die Grundregeln unseres Zusammenlebens.

Andernorts sind Verfassungsänderungen schwieriger

In anderen Ländern, zum Beispiel den USA, sind Veränderungen der Verfassung sehr viel schwieriger – das Verfahren ist kompliziert und das einfache Mehr genügt nicht. Österreich schreibt eine Zweidrittelmehrheit im Parlament vor. In Deutschland wiederum kennt man die «Ewigkeitsklausel» – Teile der Verfassung können nicht umgeschrieben werden.

In unserem System aber steht die Verfassung immer zur Disposition. Wir können sie sozusagen per Handerheben ändern. Auch Themen wie Wander- und Velowege finden da per Volksentscheid ihren Platz. Wir haben eine Verfassung, die stets in Bewegung ist. Im internationalen Vergleich ist unsere doppelte Hürde mit Volks- und Ständemehr noch immer sehr veränderungsfreundlich.

Und dennoch schützt die doppelte Hürde Minderheiten: Die kleinen Kantone sollen von den grossen (Bevölkerungsmehrheit) nicht einfach an die Wand gespielt werden. Einen ähnlichen Mechanismus kennt auch die EU: Vier Staaten zusammen haben im EU-Rat eine Sperrminorität, selbst wenn sie nur 35 Prozent der Bevölkerung repräsentieren. Bei gewissen Geschäften (Sicherheitspolitik) geht in der EU ohne Einstimmigkeit gar nichts.

Langsame Veränderung von grosser Beständigkeit

Das Ständemehr abzuschaffen wäre ein tiefer Eingriff in unser austariertes Staatsgefüge – aber unmöglich ist das nicht. Eine Volksinitiative genügt. Es muss neben der Mehrheit der Bevölkerung halt auch die Mehrheit der Kantone dafür stimmen. Ist es so ausgeschlossen, dass auch die Bürgerinnen und Bürger in den profitierenden, kleineren Kantonen zum Schluss kommen, dass sich eine Reform aufdrängt? Der Vorschlag des qualifizierten Volksmehrs, dass also eine deutliche Volksmehrheit (zum Beispiel ab 53 Prozent) das Ständemehr aushebelt, scheint ein Kompromiss für die Zukunft.

Aber die Zukunft ist noch nicht heute. Und mit nur einer Handvoll Volksabstimmungen, bei denen das Ständemehr den Ausschlag gab, ist es auch kein drängendes Problem. Die historische Erfahrung zeigt zudem, dass langsame Veränderungen, bei denen möglichst viele mitgenommen werden, von grösserer Beständigkeit sind.

Schlimm ist das Ständemehr für diejenigen, welche Veränderungen schnell haben wollen. Weniger schlimm für jene, die auf Bedächtigkeit setzen. Dass Veränderungen aber kommen – auf sehr unterschiedlichen Wegen – zeigt gerade die Erfahrung in der Schweiz (Frauenstimmrecht, Bankgeheimnis): Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist. Beim Ständemehr dauert das noch ein Weilchen.

Michael Perricone

Chef vom Dienst, SRF Newsroom

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Michael Perricone ist Chef vom Dienst in SRF Newsroom und gibt am Medienausbildungszentrum MAZ einen Kurs für Journalistinnen und Journalisten zum Umgang mit PR. Er hat 2011 als Leiter Ressort Politik bei der «Blick»-Gruppe gearbeitet.

Tagesschau, 29.11.2020; 19:30 Uhr

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