Zum Inhalt springen

Nach «Marie» und «Lucie» Staat soll für bedingt entlassene Gewalttäter haften

  • Der Staat soll haften, wenn Gewalt- oder Sexualstraftäter rückfällig werden, die vorzeitig entlassen wurden oder Vollzugslockerungen erhielten.
  • Der Nationalrat hält trotz breiter Kritik der Kantone mit 101 zu 87 Stimmen am Gesetzesprojekt fest.
  • Er verlängert die Frist zur Ausarbeitung eines Entwurfs um zwei Jahre.
  • Die Kritiker befürchten, dass ein solches Haftungsregime den gelockerten Vollzug als Vorbereitung auf die Freiheit sabotieren würde.

Auslöser für die Gesetzesarbeiten waren Gewalttaten wie die Tötung der 19-jährigen Marie im Kanton Waadt oder des Au-Pairs Lucie im Aargau. Die Vorlage geht auf eine parlamentarische Initiative der ehemaligen SVP-Nationalrätin und heutigen Zürcher Regierungsrätin Natalie Rickli zurück, welche von den Rechtskommissionen beider Räte befürwortet wurde.

Längere Vorgeschichte mit vielen Fragezeichen

Der von der Nationalratskommission ausgearbeitete Gesetzesentwurf stiess dann aber in der Vernehmlassung auf breite Ablehnung, weshalb sie das Projekt nicht weiterverfolgen wollte. Bereits zuvor hatte die Kommission vergeblich gewarnt, eine derartige Haftung stelle das System der stufenweisen Wiedereingliederung in Frage.

Nationalrat schreibt Anliegen noch nicht ab

Die Mehrheit des Nationalrats sieht das anders und folgte mit 101 zu 87 Stimmen seiner Kommissionsminderheit, welche den Staat in gewissen Fällen in der moralischen Verantwortung sieht: Wenn Behörden und Richter schon entschieden, dass ein Täter frühzeitig entlassen werden könne, dann müssten sie auch die Verantwortung dafür übernehmen, machte Andrea Geissbühler (SVP/BE) deutlich. «Im Zweifel müssen die Täter zur Sicherheit der Bevölkerung eingesperrt bleiben», sagte sie.

Kommissionsprecher Karl Vogler (CVP/OW) wies auf den breiten Widerstand der für den Strafvollzug zuständigen Kantone hin. Entsprechend mache es keinen Sinn, an der parlamentarischen Initiative festzuhalten.

Verschuldensunabhängige Haftung?

Heute haften der Bund oder die Kantone in der Regel für Schäden, die Staatsangestellte in Ausübung ihrer dienstlichen Tätigkeit verursacht haben. Voraussetzung ist, dass eine unerlaubte Handlung wie die Verletzung einer Amtspflicht dazu geführt hat. Die Lockerung des Strafvollzugs oder eine bedingte Entlassung sind gemäss Bundesgericht jedoch keine unerlaubten Handlungen, nur weil sie sich nachträglich als falsch herausstellen.

Das soll geändert werden. Die Rechtskommission hat eine Staatshaftung vorgeschlagen, die unabhängig von einem Verschulden und einer unerlaubten Handlung greift. Zum Tragen kommen soll die Bestimmung bei schweren und gefährlichen Straftaten, die im Rahmen einer Vollzugsöffnung begangen werden.

Vorbereitung auf die Freiheit nicht mehr möglich?

In der Vernehmlassung stellten sich alle teilnehmenden 25 Kantone gegen die Vorlage. Auch die FDP, die GLP und die SP lehnten den Gesetzesentwurf ab. Aus Sicht der Gegnerschaft könnte die Staatshaftung kontraproduktiv wirken: Es sei damit zu rechnen, dass künftig nur noch sehr wenig Vollzugsöffnungen bewilligt würden. Täter würden damit unvorbereitet aus der Haft entlassen, was das Rückfallrisiko erhöhe. Auch die Verfassungsmässigkeit des Vorhabens war in der Vernehmlassung in Zweifel gezogen worden.

Meistgelesene Artikel