Das Bundesgericht hat am Mittwoch die Beschwerde eines Türken gutgeheissen, dessen Einbürgerungsgesuch vom Staatssekretariat für Migration (SEM) für fünf Jahre sistiert worden war. Das SEM hatte dies mit einem Verkehrsdelikt begründet, welches der seit 30 Jahren in der Schweiz lebende Mann während seines Einbürgerungsverfahrens begangen hatte. Hierzu urteilte das Bundesgericht, dass sich das SEM nicht einseitig auf diese Strafe hätte abstützen dürfen, sondern eine Gesamtschau hätte vornehmen müssen. Es ist ein Urteil, das Folgen haben dürfte, sagt Peter Uebersax, emeritierter Professor für öffentliches Recht.
SRF: Hat es Sie überrascht, dass das Bundesgericht das SEM in diesem Fall zurückgepfiffen hat?
Peter Uebersax: Dieses Urteil war für mich nicht überraschend, weil das Bundesgericht schon in anderen Fällen entschieden hatte, dass man bei Einbürgerungen nicht allein auf ein einzelnes Integrationskriterium abstellen kann. Insofern entspricht dieses Urteil der Rechtsprechung der letzten Jahre. Neu ist allerdings, dass das Bundesgericht dies auch explizit mit Blick auf die im «Handbuch Bürgerrecht» festgehaltenen Kriterien sagt und festhält, dass das SEM auch bei vorbestraften Menschen eine Einzelfallprüfung vornehmen muss.
Bedeutet dies, dass das SEM sein Handbuch nun überarbeiten muss?
Davon würde ich ausgehen. Zumindest mit fixen Wartefristen für bestimmte Strafmasse wird das SEM nicht mehr arbeiten können. Vielleicht wird das SEM nun maximale Wartefristen definieren oder solche nur noch als Leitlinien verwenden, von denen man dann namentlich nach unten abweichen kann. Klar ist aber, dass die individuelle Integration eines Gesuchstellers künftig immer berücksichtigt werden muss.
Ob eine Einbürgerung gewährt oder abgelehnt wird, ist eine Entscheidung von grosser Tragweite.
Birgt dies nicht die Gefahr, dass die Entscheide künftig willkürlicher ausfallen?
Eine individuelle Abwägung aller Integrationskriterien vorzunehmen ist sicher anspruchsvoller als schematische Urteile zu fällen. Dies dient jedoch der Rechtsstaatlichkeit. Und das Rechtsgleichheitsgebot wird auch künftig einzuhalten sein, also dass vergleichbare Fälle gleichbehandelt werden. Aber man muss auch sehen, um was es hier geht: Ob eine Einbürgerung gewährt oder abgelehnt wird, ist eine Entscheidung von grosser Tragweite. Es ist daher richtig, dass hier jeder Fall individuell geprüft wird.
Werden Vorstrafen bei Einbürgerungen künftig weniger wichtig sein?
Sie sind nicht mehr ein alleiniges Ausschlusskriterium. Aber man muss auch unterscheiden, wir sprechen hier über geringfügige Straftaten. Jemand, der einen Mord begeht, kann noch so gut integriert sein, diese Person wird kaum je eingebürgert werden. Wenn aber jemand ein Verkehrsdelikt begeht, insbesondere wenn dies nicht vorsätzlich geschieht, muss diese Person künftig vielleicht weniger lange warten, bis ihre Einbürgerung geprüft wird.
Wie ist es eigentlich dazu gekommen, dass im Handbuch Bürgerrecht für bestimmten Strafmasse starre Wartefristen festgehalten sind?
Das SEM hat dieses Handbuch nicht im luftleeren Raum verfasst. Es entsprach dem politischen Willen, die Hürden für Einbürgerungen hoch anzusetzen. Überdies wollte das SEM vermutlich eine rechtsgleiche und vorhersehbare Verwaltungspraxis erreichen. Vielleicht ahnte das SEM aufgrund der Entwicklung der Rechtsprechung aber bereits, dass seine Praxis fragwürdig ist, nahm das jedoch in Kauf, bis jetzt jemand eine Beschwerde vor das Bundesgericht getragen hat.
Das Gespräch führte SRF-Inlandredaktor Philipp Schrämmli.