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Nationalfond-Studie Langzeitmedizin und -pflege werden immer wichtiger

Die Schweiz sollte sich vermehrt auf chronisch kranke Menschen einstellen. Zu diesem Resultat kommen neue Studien zur künftigen Gesundheitsversorgung.

Milo Puhan hat das nationale Forschungsprogramm zur Gesundheitsversorgung (NFP 74) des Schweizerischen Nationalfonds geleitet, das während fünf Jahren in zahlreichen Projekten die künftigen Herausforderungen auslotete.

«Die Gesundheitsversorgung muss sich wandeln», sagt der Zürcher Professor für Epidemiologie und Präventivmedizin zu den Resultaten. Denn es gebe viele Menschen mit chronischen Krankheiten von jung bis alt. Ältere Menschen litten oft unter zwei, drei oder gar vier chronischen Krankheiten.

Ältere Menschen leiden oft unter zwei, drei oder gar vier chronischen Krankheiten.
Autor: Milo Puhan Epidemiologe und Präventivmediziner, Leiter NFP 74

Als Beispiel nennt Puhan eine 75-jährige Frau mit einer Herzerkrankung, einer Lungenerkrankung, einer Depression und chronischen Gelenkschmerzen. Diese Seniorin braucht verschiedene Medikamente, eine Ärztin, einen Apotheker, eine Psychotherapeutin und einen Physiotherapeuten. Laut Puhan ist diese Kombination häufig.

So kommt die Nationalfondsstudie zum Schluss, dass sich der bisherigen Fokus auf die Akut-Behandlung eher auf die Langzeitmedizin und -pflege verschieben muss. Insgesamt 34 Forschungsprojekte haben sich diesem Ziel verschrieben: Die Menschen müssen mehr ins Zentrum der Versorgung rücken, alle Beteiligten sollen sich besser absprechen, und bereits vorhandene Daten sollen besser genutzt werden.

Mehr Übersicht und Qualität dank neuer Technik

Wie das gelingen kann, zeigt etwa das Forschungsprojekt des Berner Hausarztes und Forschers Sven Streit. Er hat untersucht, wie eine bestimmte Software in Arztpraxen helfen kann, wenn die Liste der verschriebenen Medikamenten lang und länger wird.

«Oft ist unklar, wer den Überblick über die Behandlung hat, wer welche Medikamente verschrieben hat und welche Wechselwirkungen bestehen», sagt Streit. Ein Vergleich zwischen Arztpraxen zeige, dass dank der Software im Schnitt ein ungeeignetes Medikament gestoppt worden sei. Zugleich seien beim Zugang zur Software die Gesundheitskosten gesunken und die Lebensqualität der Patientinnen und Patienten gestiegen.

Auch Familien vermehrt einbeziehen

Tiefere Kosten und höhere Lebensqualität zeigen auch andere Projekte: zum Beispiel jene, wobei Familie oder Umfeld von Patientinnen und Patienten einbezogen wurden. «Alle Akteure, darunter auch die enorm wichtigen Sozialdienste und die Spitex, müssen besser vernetzt werden. Nur so können Menschen mit einem weniger guten Netzwerk angemessen betreut werden», so Streit.

Menschen auf Strasse.
Legende: Welche medizinische Versorgung braucht die Schweiz in der Zukunft? Dieser Frage ist der Nationalfonds während fünf Jahren in zahlreichen Projekten nachgegangen. Keystone/Gaetan Bally

In verschiedenen Gemeinden sind solche Sorge-Netzwerke mit Freiwilligen, Spitex, Nachbarn und Sozialdiensten entstanden. Auch gute Erfahrungen macht etwa der Kanton Tessin mit der sogenannt aufsuchenden Psychiatrie. Das heisst, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen oder in einer Krise in den eigenen vier Wänden betreut und therapiert werden.

Mehr speziell geschulte Pflegefachleute

Auch gute Resultate liefert die bessere Zusammenarbeit: Die Forschenden erwähnen etwa, dass in Alters- und Pflegeheimen unnötige Spitaleinweisungen vermieden werden, wenn Pflegefachleute mit spezifischer Schulung mehr Verantwortung für die Bewohnerinnen und Bewohner übernehmen können.

Wo immer möglich sollen die Resultate der 34 Projekte in die Praxis einfliessen. Denn das gelingt oft nicht – auch das zeigt dieses Forschungsprogramm. Und damit es nicht bei diesen Erkenntnissen bleibt, wollen die Forschenden mit Bund und Kantonen weiterarbeiten.

Echo der Zeit, 19.01.2023, 18:00 Uhr

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