Die Diskussion um die neuen Verträge mit der EU ist spätestens seit dem materiellen Abschluss der Verhandlungen im Dezember im Gang. Bis heute war allerdings die Grundlage – die neuen Verträge zwischen der Schweiz und der Europäischen Union – öffentlich nicht zugänglich.
Nun liegt ein Vertragswerk von erschlagendem Ausmass auf dem Tisch, mitsamt den dazu nötigen Gesetzesanpassungen. Ausführlich legt der Bundesrat dar, wie die Schweiz und die EU das bilaterale Verhältnis regeln sollen. In Bezug auf die bestehenden Verträge, die die EU zuletzt nicht mehr aktualisieren wollte. Und in Bezug auf neue, auch künftige Verträge zwischen der Schweiz und ihrem wichtigsten wirtschaftlichen und politischen Partner.
Die Schweiz kann EU-Recht ablehnen
Die Schweiz macht darin gewichtige Zugeständnisse an die EU: Sie akzeptiert die dynamische Übernahme von EU-Recht in jenen Bereichen, in denen sie einen privilegierten Zugang zum EU-Binnenmarkt behält oder neu erhält. Die Schweiz wird zwar auch künftig die Übernahme von EU-Recht ablehnen können, im Parlament und an der Urne. Sie muss dann aber mit den Konsequenzen leben. Die EU dürfte Massnahmen ergreifen, die ein Gleichgewicht wieder herstellen sollen. Und diese Massnahmen sind im Voraus nicht bekannt.
Der Schweiz kommt aber zugute, dass die EU künftig nicht mehr frei Nadelstiche setzen könnte, wie einst bei der Börsenäquivalenz. Diese neuen Verträge sind kein Untergang für die direkte Demokratie – aber sie würden künftig die Diskussionen vor Volksabstimmungen immer dann prägen, wenn sie Bereiche betreffen, wo die Schweiz eng mit der EU zusammenarbeitet. Das ist der Preis, den die Schweiz für ein geregeltes Verhältnis mit der EU und den Zugang zum EU-Binnenmarkt zahlt.
Der Preis für die Kooperation mit Europa
Ähnlich gilt das auch für den neuen Streitbeilegungsmechanismus unter Einbezug des Europäischen Gerichtshofs. Für die Fragen rund um den sinkenden Lohnschutz, der mit Begleitmassnahmen aufgefangen werden soll. Oder für einen höheren Kohäsionsbeitrag. Man kann der Meinung sein, dieser Preis sei die Kooperation mit Europa wert – oder das Angebot als unannehmbar zurückweisen. Was ab heute nicht mehr geht, ist ein Versteckspiel hinter den noch nicht publizierten Vertragstexten.
Politik, Wirtschaft und die Gesellschaft müssen nun erklären, ob sie bereit sind, diesen Preis für die neuen EU-Verträge zu bezahlen. Oder ob sie darauf verzichten wollen – und damit in Kauf nehmen, dass sich das Verhältnis zur EU verschlechtert.
Klare Kante gefragt
Mitte und FDP müssen nun klare Bekenntnisse abgeben zur Frage, wie sie sich im Parlament zum neuen Paket stellen wollen. Die Gewerkschaften und die SP müssen erklären, ob ihnen das Erreichte bei Lohnschutz und Strom ausreicht und ob sie das Paket ablehnen oder unterstützen.
Klare Kante braucht es auch von der Wirtschaft: Economiesuisse hat zusammen mit der Plattform «stark+vernetzt» zwar eine Pro-Kampagne ins Leben gerufen, will sich dazu aber aktuell nicht äussern. Und nicht zuletzt wird sich die Kritik der Gegnerschaft künftig am Vertragstext messen lassen müssen.
Der Entscheid zu den neuen EU-Verträgen ist für die Schweiz das wichtigste aussenpolitische Geschäft des Jahrzehnts. Man kann diese neuen EU-Verträge begrüssen oder ablehnen. Hinter dem Bundesrat verstecken kann sich das Land ab heute aber nicht mehr. In der Europa-Frage ist jetzt klare Kante gefragt.