Zweimal sagte das Stimmvolk Nein zur Landsgemeinde. Und dennoch: Viele in Ausserrhoden trauern der Landsgemeinde auch heute noch nach. Warum? «Wenn man zusammen gesungen, gebetet und geschworen hat», das war die Landsgemeinde, sagt Marianne Kleiner. «Da war eine Verbindung, die etwas mit der Seele des Ausserrhoder Völkchens gemacht hat. Das haben wir verloren.»
Kleiner war jahrelang das weibliche Aushängeschild von Ausserrhoden. Sie politisierte nicht nur als Nationalrätin in Bern, sondern war auch die erste und zugleich letzte Ausserrhoder Regierungspräsidentin – oder Frau Landammann, wie man sie hier nannte.
Heute steht sie beim Landsgemeindeplatz in Hundwil und schwelgt mit dem Dorbewohner Heinz Naef in Erinnerungen, wie es damals war, als hier noch kantonale Politik gemacht wurde. «Meine Eltern hatten ein Haus hier», so Naef. Oft hätten sie während der Landsgemeinde die Fensterplätze vermietet. «Die waren manchmal über Jahre ausgebucht von immer denselben Leuten.» Diese habe man auch bewirtet.
Bäcker weint Tränen der Trauer
«Schade, dass es die Landsgemeinde nicht mehr gibt», sagt der gebürtige Hundwiler, und die ehemalige Frau Landammann stimmt ihm zu. Wehmut kommt auf. Auch schräg gegenüber des Landsgemeindeplatzes, bei Bäcker Hans Örtle: «Das war eines unserer schlimmsten Erlebnisse, als die Landsgemeinde abgeschafft wurde. Jetzt haben wir keine mehr. Das ist sehr schade», so Örtle.
Das war eines unserer schlimmsten Erlebnisse, als die Landsgemeinde abgeschafft wurde.
«Ich mag mich noch gut an die letzte Landsgemeinde erinnern. Das tut mir heute noch leid. Ich könnte heute noch heulen.» Auch neben der Bäckerei, im Wirtshaus zur Krone, vermisst man die Landsgemeinde: «Ganz am Anfang durften die Frauen noch nicht mit, oder die meisten kamen einfach nicht. Deshalb war das für uns wie eine Art Vatertag. Das war immer ein schöner Tag für uns», sagt Werner Siegwart.
Bei der Landsgemeinde sei für ihn nicht die Politik im Vordergrund gestanden, sondern das Fest. Volksfest, Tradition, direkte Demokratie: Nostalgie macht sich in Hundwil breit, wenn man über die Landsgemeinde spricht. Aber weshalb ist sie überhaupt abgeschafft worden? Aus mehreren Gründen, sagt Marianne Kleiner.
Kantonalbankdebakel als Auslöser
Da seien die Traditionalisten gewesen, welche lieber keine Landsgemeinde wollten, als eine, bei der die Frauen mitmachen durften. Dann die Progressiven, welche für Stimmgeheimnis und Zählung statt nur Schätzung waren. Und das Debakel um die Kantonalbank: Misswirtschaft und Klüngelei führten das Geldhaus in den Abgrund.
Die Politik schaute dem Treiben damals jahrelang zu. Oder wie Kleiner es ausdrückt: «Viele Jäger sind des Hasen Tod.» Hanspeter Spörri ist auf dem Hundwiler Landsgemeindeplatz eingetroffen und begrüsst die alt Nationalrätin. Er glaubt, dass vor allem das Kantonalbankdebakel für die Abschaffung der Landsgemeinde verantwortlich war. «Man war böse und wusste nicht recht, auf wen. Das einfachste Opfer war die Landsgemeinde.»
Spörri ist Journalist in Ausserrhoden und war Mitinitiant der Initiative, die wieder eine Landsgemeinde einführen wollte. «Ich tat es, weil ich das Gefühl hatte, wir müssten das noch einmal diskutieren. Es war im Volk noch nicht verarbeitet, auch bei mir nicht. Es war nötig, das zu vertiefen.» Das Initiativkomitee war zwar in der Bevölkerung breit abgestützt, wurde aber offiziell von allen Parteien sowie Regierung und Parlament bekämpft. Dies scheint gewirkt zu haben, denn 70 Prozent sagten 2010 Nein zur Wiedereinführung der Landsgemeinde. Einer davon ist Hans Meneth.
Dinge, die nicht mehr in die Zeit passen
Der bald 77-Jährige war zehn Jahre Hundwiler Gemeindepräsident – auch in jenen schicksalsträchtigen 90er-Jahren. Er wohnt etwas oberhalb von Hundwil, in seinem Elternhaus. Auf den Landsgemeindeplatz wollte er nicht kommen. Er habe keine emotionale Bindung dazu, sagt Menet. «Die Landsgemeinde war für mich nie etwas, was mit emotional berührt hat.» Wohlverstanden: Auch Menet bedauert, dass es die Landsgemeinde nicht mehr gibt. «Aber das ist mit vielen Dingen so, die nicht mehr in die Zeit passen. Das kann man bedauern, oder man sagt, es ist nun halt so.»
Die Landsgemeinde war für mich nie etwas, was mit emotional berührt hat.
Er sieht wie die Mehrheit der Ausserrhoderinnen und Ausserrhoder das heutige System eindeutig im Vorteil: Die Stimmbeteiligung ist dank dem Abstimmen an der Urne gestiegen, der Aufwand für die Stimmbürger deutlich geringer, das Stimmgeheimnis gewahrt und der Kanton kann mehrmals jährlich Vorlagen vors Volk bringen. Für Meneth ist deshalb klar: Das Kapitel Landsgemeinde in Ausserrhoden sei definitiv abgeschlossen. «Abgeschafft ist abgeschafft.»
Und wenn in zehn oder zwanzig Jahren plötzlich wieder jemand auf die Idee kommt, Unterschriften zu sammeln, um die Landsgemeinde wieder einzuführen? Die Frage geht an die beiden Landsgemeindebefürworter Kleiner und Spörri. Er muss nicht lange überlegen: «Wenn jemand käme und so etwas probierte, wäre ich wieder dabei.» Sie zögert: «Ich weiss es nicht. Ich glaube wirklich, es ist vorbei.»