Zum Inhalt springen

Politische Ansinnen aus Genf Political Correctness wird in Genf gross geschrieben

In Zürich muss ein Mitglied von Extinction Rebellion vor Gericht. Anders sieht es in Genf aus: Dort erhält die Bewegung legal Platz im öffentlichen Raum. Und es gibt weitere Aktionen, die Genf als «Super-Woke»-Kanton erscheinen lassen.

Vergangene Woche hat die Stadt Genf die Schulen aufgefordert, keine Prüfungen am 14. Juni durchzuführen, damit Schülerinnen am Frauenstreik teilnehmen können. Für solche «Woke»-Ideen ist Genf besonders bekannt. Der Begriff «woke» bedeutet, wachsam zu sein gegenüber Ungerechtigkeiten und Diskriminierung. «Woke» ist, wer bewusst lebt und Missstände sieht.

Professor für Digitale Linguistik zum Begriff «woke»

Box aufklappen Box zuklappen

Für Philipp Dreesen, Professor für linguistische Diskursanalyse, liegt ein eindeutiges Verständnis des Begriffs «woke» aktuell noch nicht vor. «Die Bedeutung des Wortes wird im gegenwärtigen Gebrauch noch herausgebildet.» In journalistischen Medien werde der Begriff häufig mit Verweis auf den Ausdruck selbst kommentiert, indem etwas erklärt wird (z.B. woke capitalism oder auf Deutsch: aufgeweckter Kapitalismus).

Auf Social Media wird der Begriff laut Dreesen zur Selbstbezeichnung und damit zur Identitätsherstellung verwendet, aber auch zur Abwertung von anderen Positionen als der eigenen.

Auf die Frage, ob eine Stadt als «woke» bezeichnet werden kann, schreibt Dreesen, dass nichts dagegen spreche – solange «wokeness» Ereignisse voraussetze, die zu einem veränderten Zustand geführt haben. «Versteht man Woke als ein positiv besetztes Fahnenwort im Sinne einer ethisch/politischen Ausrichtung (ähnlich wie Gerechtigkeit, Antirassismus), dann sollte diese Bezeichnung von den politischen Akteuren der Stadt für sich selbst verwendet werden.»

Das jüngste «Woke»-Beispiel aus der Stadt Genf betrifft die Umweltschutz-Bewegung Extinction Rebellion (XR). Am 30. Mai hat die Bewegung in Genf ihre Kampagne «Fair Face» lanciert, um auf die Gefahren des Klimawandels aufmerksam zu machen. Videos über düstere Szenarien wie 43 Grad im Genfer Quartier Paquis oder ausgestorbene Fische im Genfer See sind Teil der Kampagne.

Die Klimaerwärmung ist ein globales Problem. Es betrifft uns alle, egal, welche politische Einstellung wir haben.
Autor: Vincent Zeder Extinction Rebellion, Genf

Vincent Zeder von Extinction Rebellion Genf sagt: «Die Klimaerwärmung ist ein globales Problem. Es betrifft uns alle, egal, welche politische Einstellung wir haben.»

Ein Aktivist von Extinction Rebellion (XR) wird von der Genfer Polizei von der Strasse entfernt.
Legende: Ein Aktivist von Extinction Rebellion (XR) wird von der Genfer Polizei von der Strasse entfernt. Auf seinem Schild steht die Botschaft: «Ich bin erschrocken über die Untätigkeit des Staates in der Umweltkatastrophe.» (08. Mai 2021) Keystone

Die Stadt Genf hat die XR-Videos sowie ihre Plakate an rund 70 Standorten mit 20'000 Franken mitfinanziert. Für den Präsidenten der Genfer FDP, Bertrand Reich, ist das eine schlechte Botschaft. «Das bedeutet, dass Steuern für eine Organisation ausgegeben werden, die bekannt dafür ist, gegen das Gesetz zu verstossen.» Dies sei das Gegenteil von dem, was man unter einer Demokratie verstehe, sagt Reich. Trotz Kritik macht die Stadt Genf weiter.

Kurzeinschätzung von SRF-Korrespondentin Natascha Schwyn

Box aufklappen Box zuklappen

«Der ‹woke› Zeitgeist – er kommt vielfältig daher in Genf. Seien es Menschen, die sich mit ihren Händen auf den Pont Mont Blanc kleben und damit nicht nur den Verkehr blockieren, sondern auch ihre Sicherheit gefährden, weil sie mit der Klimapolitik nicht einverstanden sind. Oder seien es Studierende, die ihren Unmut an der Universität mit rabiaten Aktionen äussern, weil umstrittene Wissenschaftler zu Vorträgen eingeladen werden.

Dass Genf ‹woken›-Ansätzen Vorschub leistet, kommt nicht von ungefähr. Im Kampf gegen Diskriminierung hat die Stadt Genf schon immer eine Vorreiterrolle eingenommen. So werden Gleichstellung der Geschlechter und Kampf gegen alle Formen der Diskriminierung zwar vordergründig immer noch von links-grünen Kreisen angeregt, sie finden aber häufig eine Mehrheit, auch im Genfer Parlament.

Dabei geht es darum, das Feld zu besetzen, Debatten anzuregen und Gewohnheiten über Bord zur werfen. In dieser Hinsicht ist die Idee eines 20-prozentigen Rabatts auf den Eintritt zu Kultur- und Sportstätten für Genferinnen beispielhaft oder der Verzicht auf Fleischkonsum an öffentlichen Veranstaltungen für die Grünen-Mitglieder. Ansätze, die allerdings nicht nur bei der Rechten schlecht ankommen, sondern teilweise auch bei Links-Grün heftig diskutiert werden.

Genf aber bleibt und ist international und dürfte auch deshalb gegenüber dem ‹woken›-Zeitgeist offener eingestellt sein.»

Ungewöhnliche Forderungen aus der Genfer Politik

Neben der Plakatkampagne der Extinction Rebellion sorgen weitere Ansinnen aus der Genfer Politik für Aufsehen:

Stadt Genf ab 2025 werbefrei: Ab 2025 sollen kommerzielle Werbeplakate im öffentlichen Raum der Stadt Genf verboten werden – Veranstaltungsankündigungen sowie Werbung auf Trams sind davon ausgenommen. Im September 2021 haben die Linken das Anliegen «Genève Zéro Pub» (Genf werbefrei) im Stadtparlament durchgebracht. Widerstand regte sich vonseiten der Rechten – aus ihrer Sicht würde die Stadt über vier Millionen Franken an Einnahmen verlieren. Im März dieses Jahres kündigten die Rechten und die Liberalen Grünen ein Referendum an.

Rabatt für Genferinnen: Genfer Stadtbewohnerinnen sollen eine Karte erhalten, mit der sie einen vergünstigten Zugang zu allen städtischen Einrichtungen bekommen. Während Männer weiterhin den vollen Eintrittspreis ins Theater oder ins Schwimmbad bezahlen, sollen Frauen einen Rabatt von 20 Prozent erhalten. Damit will der Gemeinderat bestehende Lohnungleichheiten ausgleichen. Die Stadtregierung muss nun prüfen, wie sie diese Motion umsetzen kann.

Kein Fleisch für Genfer Grüne ist die jüngste Idee aus der Genfer Politik: Die Delegiertenversammlung der Grünen Kantonalpartei beschloss im Mai dieses Jahres, dass die Kandidierenden für den Grossen Rat oder die Kantonsregierung der Wahlen 2023 in der Öffentlichkeit kein Fleisch mehr essen sollten. Der Vorschlag wurde knapp unterstützt. Derselbe Flügel wollte über das Fleischverbot auch den Konsum von Alkohol verbieten, womit er jedoch scheiterte. Doch nicht alle Genfer Grünen stehen hinter diesem Fleischverbot – das Thema soll laut mehreren Medienberichten an der nächsten Versammlung im Juni erneut diskutiert werden.

Schweiz Aktuell, 08.06.2022, 19:00 Uhr ; 

Meistgelesene Artikel