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Prozess in Moutier (BE) Vater und Söhne hielten Frauen wie Sklavinnen

Die Anklageschrift ist das Protokoll eines jahrelangen Martyriums. Während 16 Jahren sollen ein albanisch-stämmiger Mann und dessen Söhne vier Frauen wie Sklavinnen gehalten, sie misshandelt und von der Aussenwelt abgeschottet haben. Nun müssen sich der 65-jährige Mann sowie seine vier Söhne vor dem Regionalgericht in Moutier im Berner Jura verantworten. Ihnen wird unter anderem Menschenhandel, Zwangsheirat, Vergewaltigung und sexuelle Handlungen mit Kindern vorgeworfen.

Anu Sivaganesan von der Fachstelle Zwangsheirat über den aktuellen Fall – und darüber, wie es generell um die Integration der albanisch-sprechenden Diaspora in der Schweiz steht.

Anu Sivaganesan

Juristin und Leiterin der Fachstelle Zwangsheirat

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Sivaganesan ist Juristin, Präsidentin des Vereins Migration und Menschenrechte sowie Leiterin der Fachstelle Zwangsheirat.

SRF News: Was geht Ihnen beim Fall durch den Kopf, der vor Gericht in Moutier verhandelt wird?

Anu Sivaganesan: Es ist ein Extremfall, ein tragischer und krasser Fall. Gleichzeitig bin ich interessiert daran, wie die Verhandlung laufen wird. Der Rechtsstaat soll entscheiden, welche Vorwürfe zutreffend sind und in welchen Anklagepunkten die Täterschaft für schuldig befunden wird.

Mann in Handschellen vor Gericht
Legende: Der Familienclan soll sein Leben nach dem Kanun – einem mittelalterlichen Gewohnheitsrecht – organisiert haben. Der Vater als patriarchales Oberhaupt soll für seine Söhne minderjährige Ehefrauen aus dem Balkan organisiert haben. Keystone/DPA/Thomas Frey (Symbolbild)

Der Anwalt der betroffenen Frauen geht davon aus, dass sich der Familienclan auf den Kanun, das albanische Gewohnheitsrecht, bezieht: Was genau heisst das, wenn ein Clan nach dem Kanun lebt?

Das Gewohnheitsrecht hat im Kosovo selber praktisch keinen Stellenwert. Bei albanisch-sprechenden Personen in der Schweiz ist es sehr unterschiedlich. Es kann sein, dass einzelne traditionelle Familien noch danach leben. Der Kanun spielt aber keine grosse Rolle bei Menschen, die aus dem Kosovo eingewandert sind oder ihren Nachkommen. Der zweiten Generation ist der Kanun ziemlich egal. Aber es gibt noch andere Aspekte, die man berücksichtigen muss.

Wie erleben Sie die Integration von kosovo-albanischen Familien, insbesondere der Frauen?

Ich erlebe diese als sehr gut, was die Frauen betrifft. Bei unserer Beratungsstelle melden sich betreffend Zwangsheirat und Druck und Zwang in Beziehungen viele Personen, die in der Schweiz aufgewachsen sind. Sie holen sich also Hilfe – das ist ein Zeichen der Integration. Es findet ein Umbruch statt. Auch immer mehr albanisch-sprechende Männer wagen sich, aus familiären Anbindungen auszubrechen und suchen Hilfe.

«Zwangheiraten kein Randphänomen mehr»

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Anu Sivaganesan leitet eine nationale Fachstelle gegen Zwangsheirat. Dort waren albanisch-sprechende Personen, meist mit den Herkunftsländern Kosovo oder Nordmazedonien, im letzten Jahr die zweitgrösste von Zwangsheirat betroffene Gruppe. An erster Stelle stehen afghanische Personen in der Schweiz.

Betroffen sind auch kurdisch-sprechende Menschen, etwa aus der Türkei oder auch Menschen aus Sri Lanka. «Generell ist Zwangsheirat keine versteckte Realität mehr», sagt Sivaganesan. «Zuletzt hatten wir zwischen 300-350 Fälle pro Jahr – darunter auch Zwangsverlobungen und -verheiratungen von Personen unter 18 Jahren. Das sind in der Schweiz leider keine Randphänomene mehr.»

Warum ist es so schwierig, solche Fälle zu erkennen?

Häusliche Gewalt ist ein Phänomen, bei dem es generell sehr schwierig ist, Hinweise zu bekommen. Bei betroffenen Personen aus Familien mit Migrationshintergrund kann es sein, dass sie keine Kenntnis über Beratungsangebote haben. Oder sie haben keinen Zugang dazu. Im aktuellen Fall waren die Frauen ja auch Sans-Papiers. In der Schweiz haben wir ein gutes Opferhilfe-System mit verschiedenen Beratungsangeboten, sei es im Bereich der häuslichen Gewalt oder Zwangsheiraten.

Integration muss einschliessen, dass Frauen von Anfang an erfahren, welche Rechte sie haben und wo sie Rat finden.

Womöglich waren sich die misshandelten Frauen nicht bewusst, was ihre Rechte sind. Weil sie so lange von der Aussenwelt abgeschottet waren, dachten sie vielleicht, das sei einfach ihr Schicksal. Es braucht also Aufklärung und Sensibilisierung. Integration muss einschliessen, dass Frauen von Anfang an erfahren, welche Rechte sie haben und wo sie Rat finden.

Das Gespräch führte Brigitte Kramer.

Rendez-vous, 07.11.2022, 12:30 Uhr ; 

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