Darum geht es: Der Nationalrat hat sich im neuen Sexualstrafrecht der «Nein heisst Nein»-Lösung des Ständerats angeschlossen und dabei auch den möglichen Schockzustand (Freezing) von Opfern in den Tatbestand der Vergewaltigung eingeschlossen. Gerichte können damit künftig einen Schockzustand ebenfalls als Ablehnung deuten.
Die Erwartungen: Die Mehrheit des Parlaments verspricht sich von der Revision, dass mehr Fälle von sexueller Gewalt als Vergewaltigung qualifiziert werden. Hoffnungen werden auch in die neue Massnahme gelegt, dass für Täter von Sexualdelikten sogenannte Täterarbeit verfügt werden kann. Nichts ändern wird die Reform daran, dass die Beweislage oft schwierig ist, weil Aussage gegen Aussage steht. Befürworterinnen und Befürworter der Reform versprechen sich jedoch Veränderungen bei der Befragung von Opfern und hoffen auf eine gesellschaftliche Signalwirkung.
Widerspruch statt Zustimmung: Wegen des Kompromisses hat sich die grosse Kammer definitiv vom noch im Winter favorisierten «Nur Ja heisst Ja» bei erzwungenen sexuellen Handlungen verabschiedet. Unterstützung für einen grünliberalen Minderheitsantrag, an der Zustimmungslösung festzuhalten, kam nur noch von SP und Grünen.
Vergewaltigung auch ohne Nötigung: Bisher setzt die Vergewaltigungsnorm eine Nötigung voraus. Neu vergewaltigt, wer gegen den Willen des Opfers eine sexuelle Handlung vornimmt, die mit Eindringen verbunden ist – ob mit oder ohne Nötigung und unabhängig von der Art des Eindringens in den Körper.
Sexueller Übergriff neu: Neu gibt es im Gesetz einen Straftatbestand zwischen sexueller Belästigung und Vergewaltigung – den «sexuellen Übergriff». Dieser liegt vor, wenn jemand gegen den Willen einer Person eine sexuelle Handlung an dieser vornimmt, die nicht mit Eindringen verbunden ist.
Das Freezing: Mit dem Freezing-Zusatz im Vergewaltigungstatbestand sollen Opfer in Schockstarre besser geschützt werden. Es entspricht einem nonverbalen Nein. Gegen den Willen einer Person handelt auch jemand, der überraschend handelt, eine Person über die Art der Handlung täuscht oder die Verletzlichkeit der Person aufgrund von Angst, Trunkenheit, Rausch, Schlaf, Krankheit und ähnlichen Ursachen ausnutzt.
Mindeststrafmass und Verjährbarkeit: Für Vergewaltigung mit Nötigung droht der Täterschaft eine einjährige Mindeststrafe. SVP, Mitte und GLP verlangten im Nationalrat erfolglos zwei Jahre. Beide Räte haben zudem festgeschrieben, dass Sexualdelikte an unter zwölfjährigen Kindern nicht verjähren können. Eine Verjährung erst ab Schutzalter 16 scheiterte knapp.
Rachepornografie geregelt: Strafbar macht sich künftig, wer unbefugt nicht öffentliche Text-, Ton- und Bildaufnahmen mit sexuellem Inhalt weiterleitet. Das sagt der neue Artikel zur Rachepornografie (Revenge Porn). Nicht darunter fallen Dokumente, namentlich mit sexuellem Bezug, die das Ansehen erheblich schädigen, wie das der Nationalrat wollte.
Cybergrooming noch ungelöst: Beim Cybergrooming, dem Anbahnen von sexuellen Kontakten mit Kindern, bleibt eine gewichtige Differenz. Der Nationalrat will dies weiterhin unter Strafe stellen. Die Vorlage geht somit nochmals an den Ständerat.
Die Reaktionen der Parteien
SP ist erfreut und bleibt kämpferisch: Der Kampf der Frauen für das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung verbuche drei grosse historische Errungenschaften, sagte Tamara Funiciello (SP/BE). Zentral sei der Wegfall der Nötigung bei der Vergewaltigung: «Das Übertreten oder Ignorieren einer impliziten oder expliziten verbalen oder nonverbalen Ablehnung wird neu reichen, um den Vergewaltigungstatbestand zu erfüllen.» Die künftige Täterarbeit und die Ausweitung des Vergewaltigungstatbestands auf alle Geschlechter seien weitere Erfolge. Die SP werde weiter für das Konsensprinzip kämpfen: «Der Körper ist kein Selbstbedienungsladen. Es sollte selbstverständlich sein, dass man fragt, bevor man ihn berührt.»
Mitte sieht sich bestätigt: Von massgebenden Verbesserungen spricht Philipp Matthias Bregy (Die Mitte/VS). Die Befreiung der Vergewaltigung vom Nötigungselement sei ein «Quantensprung». Die jetzige Lösung stelle sexuelle Handlungen gegen den Willen einer Person unter Strafe. Auch wenn das Freezing noch interpretiert werden müsse, so sei klar: «Eine Schockstarre ist in jedem Fall ein Nein. Und auch ein stillschweigendes Nein ist ein Nein.»
FDP betont Bedeutung für jüngere Generation: Die Anpassung des Sexualstrafrechts an die heutigen Lebensrealitäten insbesondere der jüngeren Generation sei nötig, hielt Christa Markwalder (FDP/BE) fest. Sie würdigte die Ergänzung des Freezing mit dem Schockzustand: «Trotz Kritik seitens der Lehre wegen möglicher Rechtsunsicherheiten ist für unsere Fraktion klar: Das Freezing-Phänomen gibt es in der Lebensrealität.» Das Gericht müsse dann im Einzelfall entscheiden.
SVP stört sich an tiefer Mindeststrafe: Barbara Steinemann (SVP/ ZH) kritisierte, dass bei einer qualifizierten Vergewaltigung weiterhin eine bedingte Freiheitsstrafe möglich ist. 2021 etwa seien von den 77 verurteilten Vergewaltigern nur 46 Prozent tatsächlich eingesessen, jeder Dritte habe bedingt und der Rest teilbedingt erhalten. Diese «Verharmlosung eines abscheulichen Verbrechens» wäre nach ihren Worten mit der Erhöhung der Mindeststrafe zu verhindern gewesen. Zum Nein zur Zustimmungsvariante sagte sie: «Symbolik hat im Strafgesetz nichts verloren und würde bei den Opfern falsche Erwartungen wecken.»