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Rücktritt von Walter Thurnherr Bundeskanzleramt: neue Karte im Machtpoker um den Bundesrat

Auf den ersten Blick ist es erstaunlich: Da wird mit dem Rücktritt von Mitte-Mann Walter Thurnherr das wichtige Amt des Bundeskanzlers frei, der an den Bundesratssitzungen teilnimmt und die Regierung auch berät – und einzig die SVP äussert sofort ihr Interesse. Die anderen Parteien halten sich zurück, betonen wie Mitte-Präsident Gerhard Pfister, dass es um Persönlichkeitswahlen gehe. Für den SP-Fraktionschef kommt die Frage «zu früh», der FDP-Präsident sagt gar, seine Partei erhebe keinen Anspruch.

Auf den zweiten Blick erstaunt das schon weniger. Denn indem ein machtvoller Posten frei wird, ergeben sich auch neue «Spielmöglichkeiten» im Hinblick auf die Bundesratswahlen. Im Dezember wird ja nicht nur die Nachfolge von Bundesrat Alain Berset geklärt, sondern der gesamte Bundesrat wird wieder für vier Jahre gewählt.

Machtgelüste der Grünen stillen?

Ob die heutige Zusammensetzung des Bundesrats, die Zauberformel, noch die richtige ist, ist seit längerem umstritten. So reklamieren die Grünen mit Verweis auf ihre früheren Wahlerfolge, sie hätten schon längst einen Bundesratssitz zugute. Und die GLP will, sofern sie in den Wahlen nochmals zulegt und in den Ständerat einzieht, ebenfalls in den Bundesrat. Unter Druck stehen vor allem FDP und SP mit ihren je zwei Bundesratssitzen.

Mit dem Rücktritt des Bundeskanzlers könnten Ideen aufkommen wie diese: Die Machtgelüste von Grünen oder Grünliberalen stillen, indem sie den Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin stellen könnten – und die Bundesratsparteien würden ihre Sitze in der Regierung behalten.

Oder genau umgekehrt: FDP oder SP müssten einen Bundesratssitz abgeben, dafür bekämen sie das Bundeskanzleramt. So ähnlich – zeitlich etwas versetzt – erging es der CVP früher nach der Abwahl von Bundesrätin Ruth Metzler und der späteren Wahl der CVP-Bundeskanzlerin Corina Casanova.

Kanzleramt als möglicher «Trostpreis»

Stand heute ist eine neue Zauberformel für den Bundesrat zwar wenig wahrscheinlich. Doch weil man erst nach den eidgenössischen Wahlen im Oktober sehen wird, wie stark die Parteien tatsächlich sind, gibt es hinter den Kulissen eben doch Befürchtungen. Man lehnt sich lieber noch nicht zu stark aus dem Fenster, um nach den Wahlen nicht plötzlich mit dem Kanzleramt sozusagen als «Trostpreis» abgespeist zu werden. Das Amt ist wichtig, aber halt doch weniger wichtig als ein Sitz im Bundesrat.

Vor diesem Hintergrund erstaunt es wenig, dass gerade SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi klipp und klar den Anspruch seiner Partei anmeldet. Denn als mit Abstand grösste Partei hat die SVP ihre zwei Bundesratssitze auf sicher, hat also nichts zu verlieren. Derweil nennt GLP-Präsident Jürg Grossen das Bundeskanzleramt immerhin eine «spannende Option». Für die GLP ist ein Bundesratssitz noch ziemlich weit weg. Und sie verfügt mindestens theoretisch auch über eine Person mit Leistungsausweis: Sie stellt nämlich seit 2019 mit Viktor Rossi einen Vizekanzler.

Die Diskussion über die Nachfolge von Bundeskanzler Walter Thurnherr ist erst gerade angelaufen. Klar ist erst eines: Sie kommt nicht allen Parteien gleich gelegen.

Nathalie Christen

Bundeshausredaktorin

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Christen ist Korrespondentin im Bundeshaus für Fernsehen SRF. Sie arbeitet seit 2002 für SRF. Unter anderem leitete sie die Bundeshausredaktion von Radio SRF und war Produzentin bei der «Arena». Zuvor war sie Bundeshausredaktorin beim «SonntagsBlick».

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Tagesschau, 16.08.2023, 19:30 Uhr

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