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Blick aus einem Caritas-Laden hinaus auf die verschneite Strasse, wo eine Frau mit vollen Taschen vorbeigeht.
Legende: Hunderttausende gelten in der Schweiz als arm. Keystone

Schweiz 600'000 arme Menschen in der Schweiz

Von der guten Konjunkturlage in der Schweiz profitieren nicht alle: Laut Caritas stagniert die Zahl der armen Menschen in der Schweiz bei 600'000. Grund: Viele von ihnen sind Alleinerziehende, für die es besonders schwierig ist, Arbeit und Familie unter einen Hut zu bringen.

SRF: Wieso sinkt die Zahl der Armen nicht, obschon doch die Wirtschaft wächst?

Bettina Fredrich

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Bettina Fredrich ist Leiterin der Fachstelle Sozialpolitik des Hilfswerks Caritas Schweiz. Caritas betreibt u.a. Läden, in denen Menschen mit minimalem Einkommen Lebensmittel und Hygieneartikel zu Tiefstpreisen erstehen können.

Bettina Fredrich: Das ist genau die Krux: Von Armut sind unter anderem auch Alleinerziehende betroffen. Dort spielt es keine grosse Rolle, wie gut die Wirtschaft läuft. So lange wir das Problem der Vereinbarkeit von Familie und Beruf nicht gelöst haben, wird sich da nichts ändern. So bräuchte es etwa eine familienexterne Betreuung spezifisch für Alleinerziehende – beispielsweise mit längeren Öffnungszeiten. Ein anderes Instrument wären Familien-Ergänzungsleistungen. Solche gibt es inzwischen zwar in einzelnen Kantonen, doch wir sind meilenweit von einer nationalen Lösung entfernt.

Was heisst es konkret, «arm» zu sein in der Schweiz?

Armut ist ein relatives Konzept. Für die Caritas heisst Armut, wenn jemand nicht am sozialen Leben teilnehmen kann. Dies einerseits aus finanzieller Not: Menschen, die als arm gelten, leben im Schnitt von weniger als 30 Franken pro Tag. Davon bezahlen sie Körperpflege, Kommunikation, Nachhilfe-Unterricht für die Kinder etc. Hinzu kommt aber ein weiterer Aspekt: eine prekäre Lebenslage. Wenn beispielsweise das Geld fehlt für eine gesunde Ernährung, wird man schneller krank, oder man zieht sich zurück, man kann nicht mehr den Hobbys nachgehen, es kommt zu einer sozialen Isolation, unter der dann wiederum die Gesundheit leidet. Und das wichtigste Element von Armut ist: Den Betroffenen, darunter sind eben oft auch Familien und Kinder, fehlt eine Perspektive, dass es auch wieder besser werden könnte.

Ist es denn so schwierig, in der Schweiz aus der Armut wieder herauszukommen?

Die Situation gleicht eben oft einem Teufelskreis: Ich bin arm, ich schäme mich, ich ziehe mich zurück. In Folge kommt es zu sozialer Isolation und vermehrt zu Krankheiten. Und dann fehlt ein persönliches Netzwerk, das einem in Notsituationen hilft.

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Was wäre zu tun, damit von Armut betroffene Menschen wieder eine bessere Perspektive erhalten?

Wichtig ist, dass wir anfangen, die Armut – und nicht die Armutsbetroffenen – zu bekämpfen. Das heisst letztlich auch, dass wir Armutsprävention betreiben: Dazu gehören Investitionen in die Bildung, wie etwa eine gute frühe Förderung von Kindern aus sozial benachteiligten Familien. Dies ermöglicht diesen dann später, aus diesem Armuts-Kreislauf herauszukommen. Auch Weiterbildungen für Niedrigqualifizierte gehören dazu. Oder das Bereitstellen von billigem Wohnraum, damit nicht das Wohnen zur Armutsfalle wird.

Gibt es Ihrer Ansicht nach Bemühungen von Bund und Kantonen in dieser Richtung?

Caritas beobachtet die Armutspolitik von Bund und Kantonen seit einigen Jahren sehr genau. Mit seinem 2013 lancierten Programm zur Bekämpfung der Armut in der Schweiz hat der Bund einen Meilenstein getan. Erstmals war Armut auf dieser Ebene überhaupt ein Thema. Gleichzeitig sind aber die finanziellen Mittel für dieses Programm sehr beschränkt. Auf kantonaler und kommunaler Ebene sehen wir die vielen Angriffe auf die Sozialhilfe und auf die Armutsbetroffenen. Hier müsste man ganz klar umschwenken und in die Prävention investieren, was einige Kantone auch bereits tun, etwa bei der frühen Förderung. Wenn es gelingt, diesen Zusammenhang gut zu kommunizieren, müsste es schlüssig sein, dass dies der Ausweg aus der Armut ist.

Das Gespräch führte Rafael von Matt.

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