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Gebäude des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Strassburg
Legende: Verurteilte die Schweiz in 93 Fällen von insgesamt 5940 Beschwerden: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte. Keystone

Schweiz Das wären die Folgen einer EMRK-Kündigung

Ueli Maurer brachte im Bundesrat die Kündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention aufs Tapet. Diese hätte eine verheerende Signalwirkung auf andere Staaten, sagt Völkerrechtsprofessorin Astrid Epiney. Und sie zeigt, wo die Schweizer Bürger von Entscheiden aus Strassburg profitiert haben.

SRF: Ueli Maurer schlug im Bundesrat vor, die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) zu kündigen. Welche Auswirkungen hätte dies auf die Schweiz?

Astrid Epiney: Man muss hier die rechtliche und die politische Seite unterscheiden. Aus rechtlicher Sicht sprechen gute Gründe dafür, dass in diesem Fall eine Mitgliedschaft auch im Europarat nicht mehr möglich wäre. Denn die Mitglieder des Europarates sind verpflichtet, sich an rechtsstaatliche Grundsätze zu halten.

In der Praxis ging dies stets damit einher, dass die einzelnen Staaten die EMRK ratifiziert hatten. Den Fall einer Kündigung der EMRK bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der aktiven Mitgliedschaft im Europarat gab es bisher noch nicht.

Und politisch?

Astrid Epiney

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Portraitfoto von Astrid Epiney
Legende: zvg

Astrid Epiney (*1965) ist ordentliche Professorin für Völkerrecht, Europarecht und schweizerisches öffentliches Recht an der Universität Freiburg. Seit 1995 ist sie dort zudem Direktorin des Instituts für Europarecht. Ab 2015 ist sie für vier Jahre als Rektorin der Universität Freiburg gewählt.

Einerseits gäbe es sicher höchst energische Reaktionen aus dem Ausland. Andererseits hätte die Kündigung eine verheerende Signalwirkung auf andere Staaten. Die Schweiz gehört zu den «alten Staaten» mit einem hohen Standard in Bezug auf die Menschenrechte. Wenn sie nun signalisiert, dass die Mindeststandards ihr zu weit gehen und sie sich nicht mehr der obligatorischen Gerichtsbarkeit des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) unterstellen möchte, wäre dies eine Einladung an andere Staaten, es ihr gleich zu tun. Man denke dabei nur an Russland oder die Türkei. Es ist nicht auszudenken, welchen Schneeballeffekt dies auslösen könnte.

In der Schweiz selbst würde nichts passieren?

Natürlich wäre es Schweizer Bürgern oder hier lebenden Ausländern, die sich durch staatliche Handlungen ungerecht behandelt fühlen, nicht mehr möglich, vor dem EGMR zu klagen. Allerdings ist es eher unwahrscheinlich, dass in der hiesigen Rechtsprechung sofort grosse Auswirkungen zu spüren wären. Die Grundrechte der Schweizer Verfassung gewährleisten auch die in der EMRK garantierten Rechte und gehen in manchen Aspekten gar über diese Mindeststandards hinaus.

Das klingt, als bliebe alles beim Alten.

Nur vorerst und auf den ersten Blick. In der Schweiz können Volksinitiativen die Verfassung ändern. So besteht die Gefahr, dass die Mindeststandards allmählich ausgehöhlt werden, ganz abgesehen davon, dass sich auch in der konkreten Auslegung Differenzen ergeben können.

Bis anhin ist in der Bundesverfassung klar geregelt, dass das Völkerrecht zu beachten ist. Diese Aushöhlung will auch die SVP mit ihrer geplanten Initiative «Schweizer Recht geht fremdem Recht vor» erreichen. Und so würde wohl vor allem der Schutz der Minderheiten leiden.

Diese Initiative ist ja eine Reaktion auf Urteile des EGMR, welche Bundesgerichtsentscheide umstiess. Besonders in Bezug auf Ausweisung von Ausländern. Sie sagen selbst, die Schweiz hat hohe Menschenrechtsstandards. Weshalb müssen wir denn eine Einmischung akzeptieren?

Man muss hier zuerst einmal die Verhältnisse sehen. Von 1974 bis 2013 gab es insgesamt 5940 Beschwerden gegen die Schweiz vor dem EGMR. 97 Prozent wurden als unzulässig abgewiesen. Und von den übrigen wurde die Schweiz in 93 Fällen ganz oder teilweise verurteilt. Das entspricht 1,6 Prozent aller Beschwerden. Das heisst: Klagen vor dem EGRM haben eine sehr geringe Erfolgsquote. Zudem fällen die Strassburger Richter nicht einfach Urteile gegen die Schweiz. Die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes haben durch sie auch schon klar profitiert.

Wo zum Beispiel?

In der Vergangenheit gab es Kantone, in denen eine Person gleichzeitig Untersuchungsrichter und Richter sein konnte. Die gleiche Person führte also die Untersuchung gegen einen Verdächtigen durch, klagte ihn an und richtete danach über ihn. Man kann sich vorstellen, dass hier eine Unbefangenheit des Richters praktisch unmöglich war. Diese Praxis wurde wegen Urteilen aus Strassburg geändert. Ein klarer Fortschritt für den Rechtsschutz des Einzelnen in den betroffenen Kantonen. Heute ist diese Frage auf Bundesebene geregelt.

Das heisst: Sie finden die aktuelle Kritik an den Urteilen aus Strassburg ungerechtfertigt?

Ich finde es wichtig und richtig, die Urteile kritisch anzuschauen und zu beurteilen. Es gibt zweifellos gute Gründe, das eine oder andere Urteil für nicht überzeugend zu erachten. Die Richter in Strassburg nehmen die Kritik auch wahr. Und bei Fragen, wo verschiedene Auslegungen möglich sind, hat sie durchaus einen Einfluss. Ich warne einfach davor, wegen einiger weniger Urteile, die einem nicht passen, gleich die ganze Institution – die eine in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzende rechtsstaatliche Errungenschaft in Europa darstellt – in Frage zu stellen. Beim Fussball schaffen sie ja auch nicht gleich alle Schiedsrichter ab, nur weil einmal einer fälschlicherweise einen Penalty gepfiffen hat.

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