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Schweiz Nach Geiselhaft: «Ich habe die Schatten des Bösen zurückgelassen»

Fast drei Jahre lang war er in Gefangenschaft der islamistischen Terrorgruppe Abu Sayyaf im Urwald auf den Philippinen. Nach seiner Flucht spricht der Ostschweizer Lorenzo Vinciguerra nun erstmals über seinen Einstieg in den Alltag.

Nach fast drei Jahren in den Händen von Abu Sayyaf hielt es Lorenzo Vinciguerra nicht mehr aus, er wollte zurück zu seiner Familie. Seine Flucht bezahlte er beinahe mit dem Leben. Doch sie gelang. Nun spricht der Tierpräparator erstmals über seine Rückkehr in den Alltag.

«Jeden Morgen, wenn ich aufstehe denke ich, ‹wow ich bin wieder da›», erklärt Vinciguerra zu «10vor10». Dies gebe ihm Kraft und am Abend sei er glücklich, die Kinder im Bett zu sehen.

«Ich reite auf einer Welle des Glücks und habe die Schatten des Bösen auf der Insel zurückgelassen», sagte der dreifache Familienvater vor den Medien. Sichtlich gezeichnet, abgemagert und mit einer zehn Zentimeter langen Narbe auf der linken Gesichtshälfte erzählte der 49-jährige Ostschweizer, wie es ihm seit seiner Rückkehr ergangen ist.

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In ruhigen Momenten kämen Millionen von Bildern in ihm auf, sagte Vinciguerra zu «10vo10». Er versuche aber, sich ans Positive zu erinnern. So sei ihm zum Beispiel die schöne Landschaft und zahlreiche Naturerlebnisse in Erinnerung.

Kinder kaum wiedererkannt

Seine beiden jüngeren Kinder waren fünf und sechs Jahre alt, als der Hobby-Ornithologe am 1. Februar 2012 zusammen mit seinem niederländischen Freund entführt worden war. «Hätte ich meine Kinder nach der Rückkehr auf der Strasse gesehen, ich hätte sie nicht wiedererkannt», erzählte der Familienvater, der auch eine bereits erwachsene Tochter hat.

Anfangs habe es geschmerzt, wenn seine Kinder ihn umarmen wollten. «Ich hatte ein kaputtes Knie, einen Leistenbruch, die Verletzung im Gesicht und mir fehlen immer noch mehrere Zähne.» Durch die erzwungene Bewegungslosigkeit während der Gefangenschaft, hätten sich seine Muskeln stark zurückgebildet. Sobald er sich von den Operationen erholt habe, werde er zu trainieren anfangen. «Ich möchte im Sommer mit meiner Familie wandern gehen», sagte Vinciguerra.

Kaum Veränderungen bemerkbar

«Er macht mir einen sehr guten Eindruck, das ist was mich erstaunt», sagt Vinciguerras Vorgesetzter Toni Bürgin vom Naturmuseum St. Gallen in «10vor10». Er habe drei Jahre an einem Ort verbracht, wo man nicht unbedingt hin wolle. Sein Arbeitskollege macht keine grossen Veränderungen an ihm aus. Er habe den gleichen Humor und mache einen sehr fröhlichen Eindruck. «Ich habe überhaupt nicht das Gefühl, dass er Schaden genommen hat.»

Keine Albträume

Warten auf Rechnung

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Vinciguerra ist sich bewusst, dass das EDA ihm eine Rechnung schicken wird für die Aufwendungen im Zusammenhang mit seiner Entführung. Wie hoch diese sei, wisse er nicht: «Ich warte darauf», sagte er. Wie hoch die Kostenbeteiligung ist, ist noch offen. Die Zusammenstellung der Kosten werde mehrere Monate in Anspruch nehmen, teilte das EDA mit.

Er sei glücklich, jeden Morgen in einem weichen Bett aufzuwachen und wieder einen normalen Alltag zu haben. Bisher habe er keine Albträume gehabt. Er fühle sich wohl und habe die psychologische Hilfe, die ihm angeboten wurde, nicht in Anspruch genommen.

Er verzichte bewusst darauf, Nachrichten aus der Welt, insbesondere von den Philippinen, zu hören. Es schmerze ihn, dass sein Freund zu schwach war, um mit ihm fliehen zu können. Er mache sich grosse Sorgen um den 55-Jährigen, der immer noch in den Fängen der Terroristen sei. «Ich bin sicher, wir hätten die Flucht auch zusammen geschafft. Aber es war die Entscheidung meines Freundes, zu bleiben», sagte Vinciguerra.

Für Vinciguerra ist die Natur wichtiger als der Mensch. Er sei gerne in der Natur – je weniger Menschen es habe, desto besser ist das Umfeld, das er möge. Und zu seinen Beobachtungen, wie er sich verändert hat, meint er: «Man hat sich verloren geglaubt und jetzt ist man wieder da. Das ist wie eine Wiedergeburt und man schätzt sich mehr.»

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