Die Schweiz darf Flüchtlings-Familien nicht mehr nach Italien zurückschicken, ohne vorher abzuklären, ob Italien sich auch wirklich um sie kümmern kann. Diese Auflage hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am Dienstag vergangener Woche gemacht. Damit wird das Dublin-Abkommen mit der EU in Frage gestellt, welches regelt, dass Asylsuchende in das Erstaufnahmeland zurückgeschoben werden können. Das bleibt aber nicht das einzige EGMR-Urteil gegen die Schweiz. Wie die Sonntagspresse berichtete, sind in Strassburg noch vier vergleichbare Fälle hängig.
Diese pendenten Urteile bestätigt auch das Bundesamt für Justiz (BJ). In zwei Fällen handle es sich ebenfalls um Familien, sagte BJ-Sprecher Folco Galli der «Tagesschau». Man sei jetzt daran, von Italien die erforderlichen Bestätigungen zu holen. «Die beiden anderen Fälle, eine Einzelperson und ein kinderloses Paar, sind nicht direkt vom jüngsten EGMR-Urteil betroffen», sagt Galli.
Schutz von verletzlichen Personen
Dublin-Übereinkunft unter Druck
Bei der Schweizer Flüchtlingshilfe (SFH) hofft man darauf, dass zusätzliche Urteile ein Präjudiz schaffen werden, für alle sogenannten «verletzlichen» Personen. Für Beat Meiner, Generalsekretär der SFH, sind das neben Familien mit Kindern vor allem allein reisende Jugendliche, Traumatisierte, Alte, Gebrechliche oder Kranke. «Das ist unsere klare Forderung, diese Menschen kann man unter den gegebenen Umständen sicher nicht nach Italien überstellen.» Gefordert seien alle Dublin-Staaten. Es brauche eine gerechte Verteilung der Flüchtlinge und einheitlichere Verfahren.
Die Rechtsprechung aus Strassburg habe die Türe für nachfolgende Fälle durchaus etwas aufgestossen. Das sagt Oliver Diggelmann, Professor für Völkerrecht an der Universität Zürich. Betrachtet aus einer Anwaltsperspektive, argumentiert Diggelmann, «bedeutet das Urteil eine gewisse Ermunterung, die Verhältnisse des konkreten Falles zum Thema zu machen und es allenfalls mit einer Beschwerde in Strassburg zu versuchen.»
Dubliner Übereinkommen steht unter Druck
Es ist nicht das erste Mal, dass sich der Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg zu Asylfragen und damit zum Dubliner Übereinkommen äussert. Bereits 2011 hat der EGMR einen Stopp der Rückführungen von Asylsuchenden nach Griechenland verhängt. Begründung war die prekäre Lage vor Ort.
Soweit ist er diesmal nicht gegangen. Das in der Kritik stehende Dublin-System mit den automatischen Rückführungen wird damit aber erneut in Frage gestellt. «Dieses Urteil verstärkt den Druck, über die Verteilung der Asylbewerber zu sprechen», meint denn auch Professor Diggelmann.
Die Verfahren vor dem EGMR gegen Rückführungen nach Italien betreffen aber nicht nur die Schweiz. Insgesamt sind in Strassburg 20 Fälle hängig, bei denen es um Asylverfahren mit Rückführungen nach Italien geht.
Verbot unmenschlicher Behandlung
Der Gerichtshof hatte sich am Dienstag gegen die bedingungslose Abschiebung einer afghanischen Familie aus der Schweiz nach Italien gestellt. Gleichzeitig wurden Italien schwere Mängel bei der Versorgung von Asylwerbern vorgeworfen. Der Gerichtshof argumentiert dabei mit dem Verbot von unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung der Betroffenen.
Die betroffene achtköpfige Familie war im Juli 2011 über Italien in die EU eingereist. Sie stellte in Österreich einen Asylantrag, der abgelehnt wurde, und reiste schliesslich in die Schweiz weiter, wo sie im November 2011 erneut ein Asylgesuch stellte.
Dubliner Übereinkommen kennt klare Spielregeln
Die Schweizer Behörden lehnten es aber ab, den Asylantrag der Familie zu bearbeiten, weil der Familienvater seinen ersten Asylantrag in Italien gestellt hatte. Im Dubliner Übereinkommen ist vorgesehen, dass das Land, in das der Bewerber nachweislich zuerst eingereist ist, auch das Asylverfahren durchführen muss, worauf sich auch die Rückführung in das Ersteinreiseland begründet.
Der Familienvater wehrte sich vor dem EGMR gegen die geplante Überführung nach Italien mit der Begründung, dass angesichts der Zustände im italienischen Asylwesen die menschenwürdige Behandlung nicht gewährleistet sei.