SRF News: Der Fall einer Gefängnisaufseherin, die einen verurteilten Vergewaltiger befreit und mit ihm flieht, beschäftigt derzeit die Schweiz. Was bringt einen Menschen dazu, einem Gewalttäter zur Flucht zu verhelfen?
Andreas Frei: Das Phänomen ist bekannt, es hat sogar einen Namen: Hybristophilie. Allerdings ist es bisher nur unzureichend untersucht worden. Bei allen durch Medien bekannt gewordenen Gewalttätern, gibt es Frauen, die mit ihnen in Kontakt kommen wollen. Oft bekommen sie Heiratsanträge. Auch in der Schweiz gab es schon ähnliche Fälle wie den aktuellen. So hat beispielsweise eine Lehrerin vor Jahren einem mehrfachen Mörder zur Flucht verholfen.
Aber wie erklärt man sich, dass jemand einem Gewalttäter nahe sein will?
Dazu gibt es verschiedene Theorien. Einerseits erklärt man es sich mit Frauen, die Rettungsphantasien oder ein Helfersyndrom haben. Sie glauben, der Täter sei zu Unrecht inhaftiert und müsse gerettet werden. Andererseits kann es sich um Frauen handeln, die sich einen Mann wünschen, den sie unter Kontrolle haben. Sitzt jemand im Gefängnis, ist dies gegeben. Im aktuellen Fall spielt dieser Aspekt aber sicher keine Rolle, weil die Aufseherin dem Mann zur Flucht verhalf.
Schliesslich muss man auch davon ausgehen, dass Menschen, die im Strafvollzug arbeiten, ob nun Polizist oder Gefängnisaufseher, immer eine gewisse Faszination für Verbrechen und Verbrecher haben, eine Neigung zum Thema. Dies kann im aktuellen Fall eine Rolle gespielt haben.
Gibt es auch Fälle, wo Männer sich in Gewalttäterinnen verlieben?
Mir ist kein solcher Fall bekannt, allerdings gibt es auch nur sehr wenige gewalttätige Frauen. Bei mir bekannten Täterinnen konnte ich das Phänomen aber nicht beobachten. Mir ist einzig ein Fall unter homosexuellen Männern bekannt.
Kann es sein, dass Gefängnisaufseher gar nicht genau wissen, welche Straftaten ein Insasse begangen hat? Dass sie also gar nicht wissen, mit wem sie es zu tun haben und sich deshalb verlieben?
Wie detailliert das Wissen ist, kann ich nicht sagen. Tatsache ist aber, dass Aufseher nicht einfach Gefängnistüren auf- und zuschliessen. Sie sind Teil eines Teams, das mit den Häftlingen arbeiten muss. Sie müssen das jeweilige Risiko, das von ihnen ausgeht, einschätzen können. Insofern sind sie über den Hintergrund der Häftlinge informiert.
Ich glaube aber, dass zu wenig Information kaum damit zu tun hat, dass sich Mitarbeiter eines Gefägnisses in Häftlinge verlieben. Ich selbst habe einen Fall in der stationären forensischen Psychiatrie erlebt, in der eine bestausgebildete Pflegerin, sich in einen Gewalttäter verliebte. Sie wusste genau, welche Vergangenheit der Mann hatte. Man hat versucht, ihr klarzumachen, dass dies kaum ein gutes Ende nehmen wird. Trotzdem liess sie sich nach der Entlassung des Mannes auf eine Beziehung ein. In dieser erlebte sie Gewalt.
Wie versuchen Gefängnisse denn zu verhindern, dass Mitarbeiter eine ungesunde Nähe zu Insassen entwickeln, wie dies im aktuellen Fall geschah?
Aufseher haben eine einjährige Schulung, während der sie sich auch mit diesem Thema auseinandersetzen. Zudem gibt es regelmässige Supervisionen, in denen Beobachtungen geteilt und besprochen werden können. Dort können auch solch heikle Aspekte thematisiert werden, wenn sie anderen Mitarbeitern auffallen. Ich kenne aber das konkrete Gefängnis nicht. In der Schweiz gibt es von Kanton zu Kanton, von Gefängnis zu Gefängnis sehr unterschiedliche Kulturen, wie mit solchen Themen umgegangen wird.
Das Gespräch führte Jvo Cukas