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Flüchtlinge aus Eritrea kommen in der Bucht von Augusta auf Sizilien an.
Legende: Eritreer bei der Ankunft in Sizilien am 22. April 2015. Auch ihre Flucht führte über Sudan und Libyen. Keystone/Archiv

Schweiz Vier Jahre Flucht bis Winterthur – ein Eritreer blickt zurück

Drohender Einzug ins Militär und Hoffnung auf ein Leben in Freiheit. Aus diesen Gründen hat sich der Eritreer Yohannes 2008 zur Flucht entschlossen. Dass er zu einer vierjährigen Odyssee aufbricht, ahnt er damals nicht. Der 28-Jährige lebt heute als anerkannter Flüchtling in Winterthur und erzählt.

Ein kleines Gartencafé, wenige Schritte vom Bahnhof Winterthur entfernt. Die Sonne scheint, der Wind weht die Blüten von den Bäumen. An einem Tisch im Schatten sitzt Yohannes. Der Mann mit den dunklen Zapfenlocken und dem Schalk in den Augen erzählt seine Geschichte – eine Geschichte, die so gar nicht in dieses Idyll passen will.

Wasser und Himmel soweit das Auge reicht: An dieses Bild erinnert sich Yohannes, wenn er an seine Fahrt über das Mittelmeer denkt. Drei Tage und drei Nächte ist er zusammen mit 239 anderen auf einem alten Fischkutter von der libyschen Küstenstadt Benghasi nach Sizilien unterwegs. An Schlaf denkt niemand, zu gross ist die Angst. Um dagegen anzukämpfen, wird ab und zu gesungen oder gescherzt. Von den Schleppern gibt es am Morgen und Abend ein halbes Glas Wasser und ein Stück Brot.

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Dreieinhalb Jahre in Sudan

Doch von Anfang an: Yohannes' Reise beginnt vor sieben Jahren in Asmara, der Hauptstadt von Eritrea. Der damals 21-Jährige kümmert sich nach dem Tod seines Vaters um die Mutter und die zwei jüngeren Geschwister. Als er auf unbestimmte Zeit in den Militärdienst soll, beschliesst er die Flucht.

Zu Fuss schafft es Yohannes über die Grenze nach Sudan. In der Hauptstadt Khartum hält er sich dreieinhalb Jahre lang mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Als er genug Geld zusammen hat, tritt er die nächste Etappe seiner Reise an.

Durch die Sahara in libyische Haft

Auf einem Lastwagen durchquert er mit 127 Menschen die Sahara nach Libyen. Sechs Tage dauert die Wüstenfahrt, nachts schlafen alle unter freiem Himmel. Hart sei diese Reise gewesen, sagt Yohannes und lacht. Er lacht häufig in diesem Gespräch.

Wenn sie uns erwischen, schlagen sie uns, viel mehr passiert kaum.
Autor: Yohannes Flüchtling aus Eritrea

Selbst als er erzählt, wie er an der libyschen Küste ins Gefängnis gesteckt wird – und wie ihm abermals die Flucht gelingt. «Wenn sie uns erwischen, schlagen sie uns, viel mehr passiert kaum.» Die Flucht bleibt seine einzige Option.

«Für Eritreer bedeutet das Leben im Sudan oder in Libyen ständige Angst. Flüchtlinge stehen zuunterst in der gesellschaftlichen Hierarchie und sind der Willkür der Polizei und des Militärs und immer mehr auch der Terror-Gruppe Islamischer Staat ausgeliefert» stellte Yohannes fest.

Warten auf die Überfahrt, Preis: 1600 Dollar

Nach der Zeit im Gefängnis lernt Yohannes einen Schlepper kennen, der verspricht, ihn nach Italien zu bringen. Einen Monat lang wartet er an der libyschen Küste, in einem Haus, wo die Schlepper die «Kunden» sammeln. In dieser Zeit habe er die Menschen, die später mit ihm übers Meer gereist seien, sehr gut kennengelernt, berichtet Yohannes.

Erst als genügend Passagiere zusammen sind und alle die 1600 Dollar für die Überfahrt bezahlt haben, geben die Schlepper das Startkommando. Dann geht alles Schlag auf Schlag: «Wir sind mitten in der Nacht geweckt worden und innert Minuten aufgebrochen. Gepäck und Lebensmittel waren nicht erlaubt.»

Statt dem von den Schleppern versprochenen grossen modernen Schiff wartet ein verrosteter Fischkutter: «Viele haben sich vor lauter Angst zuerst geweigert, einzusteigen. Doch nach der Flucht aus Eritrea gibt es kein Zurück», sagt Yohannes.

Dass die Reise ohne grössere Zwischenfälle verläuft, schreibt Yohannes nicht nur seinem Glück zu, sondern auch der klaren Ordnung, welche die Passagiere rechtzeitig untereinander absprechen. Fünf werden vor der Abreise ausgewählt. Sie sorgen für die richtige Gewichtsverteilung an Bord und verhindern, dass der Kutter am zweiten Tag der Überfahrt bei starkem Wind und hohen Wellen kentert.

Zu gross ist die Hoffnung auf ein Leben in Freiheit.
Autor: Yohannes Flüchtling aus Eritrea

Sie schaffen es alle – im Gegensatz zu den Tausenden, die bis heute die Überfahrt nicht überlebten. Mit vielen seiner Weggefährten steht Yohannes nach wie vor in Kontakt: Manche sind noch immer in Italien, andere in Schweden und Norwegen. «Solange sich in Eritrea nichts ändert, wird der Flüchtlingsstrom nicht abbrechen», ist er überzeugt.

Was er aber genauso weiss: Von seiner Familie wird keiner den beschwerlichen Weg nach Europa auf sich nehmen. Nicht nach allem, was er seinen Angehörigen erzählt hat. Yohannes geht allerdings davon aus, dass keiner seiner Freunde und Bekannten auf seine Warnungen hören wird. Zu gross sei die Hoffnung auf ein Leben in Freiheit. «‹Du hast es schliesslich geschafft , warum nicht auch ich?›, werden sie mir entgegnen.»

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