Luzius Wildhaber galt als einer der Bedeutenden seines Fachs und hat in den letzten Jahrzehnten das Völkerrecht national und international stark geprägt. Nicht nur als Theoretiker an der Universität, sondern auch ganz praktisch als Richter. Nun ist Wildhaber mit 83 Jahren gestorben. Helen Keller ist heute als Richterin am gleichen Gericht in Strassburg tätig wie damals Wildhaber und weiss um die Bedeutung seiner Karriere.
SRF News: Die «NZZ» schreibt in einem Nachruf, Luzius Wildhaber sei ein Völkerrechtler mit Beharrlichkeit und Leidenschaft gewesen. Haben Sie ihn auch so erlebt?
Helen Keller: Beharrlich habe ich ihn vor allem dann erlebt, wenn es um den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ging. Er hat sich unermüdlich für das Renommee dieser Institution eingesetzt, hat sich schützend vor die Kollegen gestellt, wenn diese unter Druck geraten sind.
Leidenschaftlich habe ich ihn vor allem als Professor erlebt, immer dann, wenn es um den Stellenwert des Völkerrechts als Recht, also als verbindliche Rechtsordnung, ging. Hier hat sich Wildhaber leidenschaftlich dafür ausgesprochen, dass sich die Schweiz als Kleinstaat an das Völkerrecht halten muss. Aber dass sich die Schweiz auch dafür einsetzen soll, dass das Völkerrecht weiterentwickelt wird.
Was war seine grösste juristische Leistung?
Schaut man sich seine Publikationsliste an, springt ein Titel von 1971 ins Auge, nämlich «The Treaty-making Power and Constitution». Dass sich Wildhaber bereits 1971 mit der Frage befasst hat, wer eigentlich völkerrechtliche Verträge abschliessen darf, zeigt, wie weitsichtig er war.
Die Schweiz hat im internationalen Vergleich einen beachtlichen menschenrechtlichen Ausweis.
Es ist eine Frage, die uns bis heute beschäftigt: Welche Verträge müssen unter das Referendum gestellt werden? Wie viel Mitspracherecht wollen wir dem Parlament oder den Kantonen einräumen? Wer darf die Verträge wieder kündigen?
Wildhaber durchlief eine grosse und lange Karriere. Von 1998 bis 2007 war er Präsident des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte. Wie hat er dieses Gericht geprägt?
Als Präsident war er «nur» einer von 47 Richtern. Sein Einfluss war beschränkt. Trotzdem war es von ungeheurer Bedeutung, dass dieser erste Präsident gerade aus der Schweiz kam. Die Schweiz hat im internationalen Vergleich einen beachtlichen menschenrechtlichen Ausweis. Natürlich ist auch in der Schweiz nicht alles zum Besten bestellt. Das hat auch Wildhaber immer wieder betont.
Aber die Schweiz ist nicht bekannt für anhaltende systematische oder gravierende Menschenrechtsverletzungen. Das hat die Glaubwürdigkeit dieses Gerichtshofes erhöht. Und diesem Umstand ist es sicher auch zu verdanken, dass die Schweiz sich über Jahrzehnte immer wieder für die Stärkung des Gerichtshofes stark gemacht hat. Die Wege zwischen Strassburg und Bern waren klein, und es war sicher von grossem Vorteil, dass Luzius Wildhaber ein Schweizer war.
Wildhaber hatte immer wieder Beschwerden gegen die Schweiz zu beurteilen. Gleichzeitig war in der Schweiz lange die Diskussion um fremde Richter im Gange. Wie bewegt man sich als EGMR-Richter in diesem Spannungsverhältnis?
Einerseits erwartet man zu Hause, dass man die Situation so gut wie möglich verteidigt. Andererseits ist es ja gerade die Aufgabe eines unabhängigen Richters, die Menschenrechte so gut wie möglich zu schützen. Wildhaber ist diese Gratwanderung sehr gut gelungen. Er hat es auch verstanden, dass man ab und zu einen Pflock einschlagen muss, auch gegenüber dem eigenen Land, damit die Menschenrechte sich weiter entwickeln.
Das Gespräch führte Beat Soltermann.