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Schweizer vor Gericht in Paris IS-Verdächtiger: «Wir haben nur diskutiert und nie etwas gemacht»

  • Der schweizerisch-bosnische Doppelbürger M. sagte vor dem Pariser Gericht aus, er wäre niemals zur Tat geschritten, die angeblichen Anschlagspläne seien nur Diskussionen gewesen.
  • Dem heute 31-Jährigen drohen bis zu 30 Jahre Haft, weil er in Chat-Gruppen und mit seiner Frau über Attentate in Frankreich und in der Schweiz sprach.
  • Vor Gericht erklärte M., er habe sich manchmal einsam gefühlt und Bestätigung gesucht, auch seien ihm oft die Emotionen durchgegangen.

M. und seine sechs angeblichen Komplizen müssen in einer Glasbox Platz nehmen, flankiert von Polizisten. Es sind lange Verhandlungstage im Justizpalast auf der Île de la Cité in Paris. Psychiatrische Gutachter sagen aus, Zeuginnen aus dem Umfeld der Angeklagten werden befragt, Spezialisten der «Sous-Direction Anti-Terroriste» berichten von ihren Ermittlungen.

Dem einen oder anderen Angeklagten fallen da zuweilen die Augen zu. Einem passiert das nie: M., 31 Jahre alt, aufgewachsen in Yverdon. Gemäss Anklage ist er «Emir», Anführer einer Gruppe, die angeblich über verschlüsselte Apps Terrorattacken vorbereitete.

Die Vorwürfe

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Dem «Emir» werden unter anderem Terrorismusunterstützung und Anschlagsplanungen in Frankreich und der Schweiz vorgeworfen.

In verschiedenen Chat-Gruppen der verschlüsselten App Telegram hatten M. und seine angeklagten Komplizen während Monaten darüber diskutiert, welche Ziele im Namen der Terrororganisation IS angegriffen werden könnten, wer welche Aufgabe übernimmt, wie Geld, Sturmgewehre und Sprengstoff beschafft werden könnten.

Diskutierte Ziele waren beispielsweise Nizza, ein Fest in Menton, das französische Militär, ein nicht genehmer Imam oder Synagogen.

Auf Schweizer Boden könnten die Bundesanwaltschaft, das Schienennetz oder eine Homosexuellen-Party in der Westschweiz angegriffen werden, so diskutierten die Angeklagten.

Die angeblichen Delikte im Bereich Terrorismus in der Schweiz hat die französische Staatsanwaltschaft von der Bundesanwaltschaft übernommen.

M. erscheint zunächst in Jeans, weissem Hemd und gegeltem Haar – begnügt sich im Verlauf der Woche aber mit einem Trainer.

Ich kann nicht verstehen, dass das verboten war.

Am ersten Verhandlungstag hatte er den Ausführungen noch scheinbar emotionslos gelauscht. Dann scheint M. trotz frostiger Temperaturen im Saal aufzutauen: Ist er nicht einverstanden mit Ausführungen im Zeugenstand, schüttelt er den Kopf, verdreht die Augen, tippt mit dem Zeigefinger gegen seine Schläfe. Seinen Verteidigerinnen gibt er Handzeichen, an welchen Stellen sie nachfragen sollten. Und lobt einen Vortrag seiner Anwältin mit erhobenen Daumen.

M. hält sich für unschuldig

M. nestelt ständig an seiner Gesichtsmaske, schiebt die Hände unter die Schenkel, um kurz darauf die Handflächen auf den Beinen zu reiben.

Ich bin schockiert, dass ich deswegen festgenommen wurde.

M. hält sich für unschuldig. Die Chat-Konversationen während Monaten – Erschiessungen aus dem Hinterhalt, selbstgebaute Bomben in Bahnhöfen, Geiselnahmen, Enthauptungen, die Liste füllt mehrere Seiten der Ermittlungsakten –, das seien bloss Worte gewesen. «Ich bin schockiert, dass ich deswegen festgenommen wurde. Noch immer kann ich nicht verstehen, dass das verboten war. Wir haben ja nur diskutiert und nie etwas gemacht!».

Keine Kooperation vor Gericht

Bei seinen ersten Aussagen gab er sich noch scheu, doch das legte er im Verlaufe der Woche ab. Zuletzt unterbricht er gar den Richter, fällt diesem wiederholt ins Wort. Dieser fordert ihn mehrfach auf, Fragen doch bitte direkt zu beantworten – doch M. scheint nicht anders zu können, und holt stets in weiten Bögen aus.

Etwa dann, wenn der Richter wissen will, ob er noch immer radikale Ansichten habe: M. setzt zu einer gedanklichen Reise durch die Weltreligionen an, über die er in seiner Zelle sinniert habe. Um beim Islam zu landen, der eben doch für ihn die beste Religion sei. Doch radikal? Er verweist den Richter auf ein bestimmtes Gutachten, das ihm Besserung bescheinige.

Wird er mit Vorwürfen von Gewaltausbrüchen konfrontiert, etwa gegenüber seiner Frau und seinen Kindern, so räumt er Fehler ein. Er schiebt seiner Frau die Schuld zu. Sie habe ihm gedroht, ihn zu verlassen, das habe ihm das Herz gebrochen. Auch hält er sich an scheinbar auswendig gelernten Phrasen fest: Er habe seine Emotionen nicht mehr unter Kontrolle gehabt.

Der Prozess wird kommende Woche fortgesetzt.

10 vor 10, 4.1.2021, 21.50 Uhr

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