Innert wenigen Minuten hat das Wirtepaar Invernizzi am 4. Juli 2022 fast alles verloren. Nach einem Gewitter über dem Hohgant verwüstete eine Sturzflut der Emme das 1834 eröffnete Gasthaus Kemmeriboden Bad. «Wir sind an diesem Tag entwurzelt worden», sagt Reto Invernizzi.
Emmental: So heftig traf das Unwetter Kemmeriboden
Denn die Wassermassen zerstörten das Werk von sechs Generationen weitgehend. So schrieb schon Jeremias Gotthelf seine Texte im Sääli des Wirtshauses bei Schangnau BE, das heute nicht nur wegen den «Meränggen» weit über die Kantonsgrenzen hinaus bekannt ist.
Nach dem Unwetter mussten historische Tische, Stühle und sogar das Klavier entsorgt werden. «Das hinterlässt Narben», sagt der Inhaber des auf 975 Meter über Meer gelegenen Landgasthofes ein halbes Jahr nach der Katastrophe.
Invernizzi und seine Familie haben zwar ihr Zuhause und den Betrieb verloren, aber die 30 Gäste, Mitarbeitende und die Familie konnten sich ins Obergeschoss retten, als die Emme das Areal flutete. «Wir sind sehr dankbar, dass niemand zu Schaden gekommen ist», sagt der Wirt weiter.
Wiederaufbau als «Operation am offenen Herzen»
Statt Servicepersonal schwirren nun Bauarbeiter durch die Gemäuer des historischen Gebäudes. Es wird gebohrt und gehämmert. Der Wiederaufbau läuft auf Hochtouren. «Es ist wie eine Operation am offenen Herzen», sagt Invernizzi. Doch es gilt, viele Stolpersteine zu überwinden.
Es sei eine sehr strenge und energieraubende Zeit, obschon er wieder zuversichtlich in die Zukunft blicke. Die Phase des Schocks und der Trauer sei jetzt vorbei. Die Sorgen bleiben.
Schwierig sei insbesondere, dass man keine Kostensicherheit habe. Also nicht weiss, wie viel die Versicherungen vom Schaden tatsächlich decken. Und wie viel der Betrieb selbst stemmen muss. Ans Aufgeben hat Invernizzi aber nie gedacht: «Für uns war immer klar: Wir stehen wieder auf und kommen zurück.»
Mitarbeitende bleiben dem Kemmeriboden Bad treu
Besonders am Herzen liegen Invernizzi natürlich die 65 Angestellten. Sie packen weiter an: Das Personal ist teils zu Bauarbeitenden «umfunktioniert» worden oder hilft im Pop-Up-Bistro des Kemmeriboden-Wirts in Thun aus.
Die 15 Lernenden können ihre Ausbildung ebenfalls in anderen Betrieben fortsetzen. «Für uns ist es enorm wichtig, dass wir unsere Equipe zusammenhalten konnten», sagt er weiter.
Bereits die Spanische Grippe traf Kemmeriboden Bad
Die Familie Invernizzi lässt sich nicht unterkriegen. Es ist nicht das erste Mal, dass das 188-jährige Gasthaus mit grossen Widrigkeiten kämpft. 1918 starben sowohl der Ur- wie der Urur-Grossvater an den Folgen der Spanischen Grippe.
Eine derartige Flut wie diesen Sommer hingegen hat es noch nie gegeben. So eine Katastrophe ereigne sich laut den Modellen in diesem Gebiet nur alle 580-Jahre, sagt der Emmentaler. «Wir haben keine Angst. Die Natur gibt uns immer noch mehr, als sie uns genommen hat.»
Noch türmt sich aber im Kemmeriboden viel Arbeit auf. Invernizzi plant eine Teilöffnung des Betriebes im Frühsommer 2023 – vorerst exklusiv für Hotelgäste. Wann die Instandsetzungsarbeiten vollständig abgeschlossen sein werden, ist noch ungewiss.