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Sterben in Corona-Zeiten Theologin: «Corona hat das Gefühl der Hilflosigkeit verstärkt»

Als Anfang März der erste Todesfall nach einer Covid-Erkrankung gemeldet wurde, war das Medienecho gross. Heute scheint es, als würden wir die Zahlen einfach so zur Kenntnis nehmen. Von Abgestumpftheit will die Theologin Isabelle Noth aber nicht sprechen.

Isabelle Noth

Evangelische Theologin

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Noth ist Professorin für Seelsorge, Religionspsychologie und Religionspädagogik an der Universität Bern.

SRF News: Sind wir abgestumpft?

Isabelle Noth: Das glaube ich keinesfalls. Denn hinter jeder Zahl, und das wissen die Menschen, stecken Einzelschicksale, und damit ist sehr viel Leid verbunden. Aber es ist auch verständlich, dass wir nicht bei allen Zahlen gleich heftig reagieren können – weil wir das psychisch nicht bewältigen könnten.

Berührt uns ein Flugzeugabsturz mehr?

Wir wissen, dass diejenigen Tode, die vom Menschen verschuldet sind, also ein Mord oder Krieg, am schwersten zu verarbeiten sind und schwere Traumata hinterlassen. Natürlich ist auch bei Unfällen und technischem Versagen Leid damit verbunden. Aber es ist gemäss verschiedener Studien einfacher, damit umzugehen.

Und eine Pandemie liegt irgendwo dazwischen?

Es kommt darauf an, wie die Person gestorben ist und in welchen Kontexten sie eingebunden war. Wir können nicht ein Urteil über den Tod fällen unabhängig vom Gesamtumfeld. Die Pandemie ist neu, es waren keine Erfahrungen da. Dass man das Gefühl hat, man sei dem Virus ausgeliefert, hat das Grundbedürfnis nach Kontrolle arg strapaziert. Es ist ein schwieriges Sterben.

Hand eines Patienten im Spital
Legende: Das Bundesamt für Statistik hat seit der Corona-Pandemie eine signifikante Übersterblichkeit bei älteren Menschen festgestellt. Keystone

Viele sagen in der Pandemie auch: «Alte Menschen sterben halt». Haben die späten Jahre einer Biografie weniger wert?

Nein, das wäre verheerend, es so zu sehen. Wir wissen aus der Entwicklungspsychologie der Lebensspanne, dass auch die letzten Jahre sehr entscheidend sind. Entwicklung geht bis zum Ende des Lebens. Im Übrigen ist unsere Hochaltrigkeit eine zivilisatorische Errungenschaft.

Heisst das, Sie empfinden den Umgang mit dem Sterben während der Pandemie als normal?

Ich denke, es gibt Entwicklungsschritte. Als im Frühling alles geschlossen wurde, Altersinstitutionen keine Gäste mehr hereinliessen, ging es darum, die körperliche Unversehrtheit der Bevölkerung rundum zu gewährleisten. Mit der Zeit hat man gemerkt, dass das so nicht geht.

Die Lebensqualität einer Person ist mindestens so wichtig wie die Lebensdauer.

Wir leben ja nicht vom Brot allein, wir haben noch andere menschliche Bedürfnisse: das Grundbedürfnis nach Bindung, nach Berührung. Menschen können auch an Einsamkeit sterben. Das hat dazu geführt, dass man gesagt hat, so können wir das nicht mehr machen, sonst haben wir quasi lebende Tote um uns herum.

Und dafür nehmen wir den Tod in Kauf?

Es ist ein Abwägen. Zugleich: Was heisst, wir nehmen den Tod in Kauf? Der Tod gehört zu uns, wir können ihm nicht entkommen. Es ist die Frage nach dem Früher oder Später und unter welchen Umständen. Aber die Lebensqualität einer Person ist mindestens so wichtig wie die Lebensdauer.

Ist es für die kranken Menschen ein anderes Sterben in der Pandemie?

Natürlich ist jedes Sterben sehr individuell und es ist schwierig, allgemeine Aussagen zu machen. Aber es ist im Moment schon so, dass an einem bisher unbekannten Virus zu sterben oder zu erkranken, das Gefühl der Hilflosigkeit und Angst verstärkt hat. Das Sterben in Zeiten von Corona hat Eigenheiten, und zugleich gehört Sterben einfach zu unserem Leben.

Wie gehen die Seelsorger mit diesen Eigenheiten um?

Als Verwandte ihre Angehörigen nicht besuchen durften, als Menschen allein gestorben sind, war es die Hauptaufgabe, ein Verständnis für diese besondere Situation zu wecken und insbesondere den Menschen Schuldgefühle zu nehmen – klar zu stellen, dass das kein persönliches Versagen ist.

Das Gespräch führte Simone Hulliger.

Echo der Zeit vom 24.11.2020, 18 Uhr ; 

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